«Betroffene sind Schmerzen nicht mehr einfach ausgeliefert»

In einem zweiteiligen Interview spricht Zita Sieber, seit über dreissig Jahren Shiatsu-Therapeutin, darüber, was Schmerz ist, wie Schmerz empfunden wird und wie Shiatsu helfen kann, Schmerz zu lindern.

Wie hilft Shiatsu, Schmerzen zu lindern?
Eine Shiatsu-Behandlung kann einerseits Verspannungen lösen, den Ki-Fluss im Meridiansystem ausgleichen und dadurch den Selbstheilungsprozess anregen. Anderseits kann ich bei Schmerz-Betroffenen mithilfe verschiedener effizienter Techniken gezielt die Selbstregulation aktivieren, sodass die Beschwerden abklingen und der Genesungsprozess in Gang kommt. In meine Arbeit fliessen verschiedene Shiatsu-Stile ein und im Umgang mit Schmerzen arbeite ich persönlich seit vielen Jahren erfolgreich mit dem Shin So Shiatsu-Stil.

Welche Ziele stehen bei einer Behandlung im Vordergrund?
Zu Beginn einer Behandlungsserie ist es mein erstes Ziel, dass Schmerz-Betroffene möglichst schnell eine Linderung der Schmerzen erfahren oder gar schmerzfrei werden. In einem weiteren Schritt geht es mir darum, den tieferen Ursachen auf den Grund zu gehen. Manchmal verändern sich die Ziele auch innerhalb einer Behandlungsserie, wenn Betroffene Schmerzen einordnen und die Zusammenhänge zwischen den Schmerzen und ihrer Lebenssituation erkennen können und sich dadurch ihr Zustand positiv verändert und verbessert.

Wie gehen Sie bei einer Behandlung von Menschen mit Schmerzen vor?
Im ersten Schritt lasse ich mir die Situation und die Schmerzen sehr genau beschreiben und erfrage, mit welchem Ziel die Betroffenen zu mir kommen. Dann folgt eine umfassende Befunderhebung bezüglich des Meridiansystems, des körperlichen Beschwerdebildes und des Potenzials der Klienten. Daraus entscheidet sich, ob ich Zugang über die direkte Behandlung des strukturellen Problems (Schmerzen in Verbindung mit dem Bewegungsapparat) finde oder ob ich zuerst auf der organischen oder emotionalen Ebene beginne. Ich behandle das tiefste Ungleichgewicht auf der Meridianebene und arbeite dabei mit dem Potenzial der Klienten. Dazu verbinde ich mich bei der Behandlung mit ihrem gesunden und kompetenten Wesenskern, manchmal mit einer spezifischen Gabe, wie zum Beispiel einem Musiktalent oder einem ausgeprägten Mitgefühl. Die Erinnerung an die eigenen Stärken ist für die Heilung essenziell.

Was passiert beim Betroffenen?
Menschen mit Schmerzen wollen als Ganzes wahr- und ernstgenommen werden. Durch die Berührung und das entstandene Vertrauen entspannen sie sich und können loslassen. Oft entwickelt sich eine Bereitschaft, mit dem schmerzhaften Teil in Kontakt zu treten und ihn als Botschaft zu erkennen, um in ein ganzheitliches Gleichgewicht zurückzufinden.

Verändert sich die Wahrnehmung der Schmerzen nach mehreren Behandlungen? Wenn ja, wie?
Falls der Schmerz nach mehreren Behandlungen noch da sein sollte, sind Betroffene ihm nicht mehr einfach ausgeliefert. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass, wenn sie sich entspannen und sich für den Schmerz öffnen, er sich nicht mehr bedrohlich anfühlt und sie ihn in einer angenehmen Ausdehnung lindern oder auflösen können. Sie sind in der Lage, den Schmerz besser zu lokalisieren, ihn differenzierter zu beschreiben und in Beziehung mit ihm zu gehen.

Wie wichtig ist bei Schmerzen, insbesondere bei chronischen Schmerzen, die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Ärzten und Fachpersonen anderer Disziplinen?
Diese Zusammenarbeit erachte ich als enorm wichtig. Jede Fachrichtung oder Disziplin hat ihre eigene Richtigkeit. Die Kunst und Aufgabe ist es, jeweils die zur Situation passende Fachrichtung zu konsultieren. Mit Hilfe ärztlicher Unterlagen und Einschätzungen kann ich mir ein umfassendes Bild machen. Wenn ich beispielsweise bei einem Problem des Bewegungsapparates nicht weiterkomme, empfehle ich eine osteopathische oder manchmal eine chiropraktische Behandlung. Im Falle eines Verdachts auf eine medizinisch abzuklärende Erkrankung, rate ich meinen Klienten unbedingt zu einer schulmedizinischen Untersuchung. Und wenn ich Menschen mit psychischen Belastungen begleite, beziehe ich, wenn nötig, immer Fachleute dieser Richtung mit ein. Unsere Grenzen zu kennen und danach zu handeln, gehört zu unserer Grundkompetenz.

Biographische Angaben:
Zita Sieber, Shiatsu-Therapeutin SGS, Shiatsu-Diplom 1989, ist Dozentin für Shin So Shiatsu an diversen Shiatsu-Schulen.