Die Meridian-Entwicklung bei Kindern
Bei der Behandlung von kleinen und grossen Kindern mit Shiatsu stehen Kenntnisse über die Entfaltung der Meridiane und das Wissen der westlichen Entwicklungsphysiologie im Vordergrund.
Shiatsu für Babys, Kleinkinder und ältere Kinder stellt zum einen eine Methode zur Förderung einer gesunden kindlichen Entwicklung und zum anderen eine Behandlungsmethode zur Unterstützung bei Entwicklungsauffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen dar. Dabei stehen Kenntnisse über die Entfaltung der Meridiane und das Wissen der westlichen Entwicklungsphysiologie im Mittelpunkt. Aus diesem Grund ist Shiatsu für Babys nicht einfach Erwachsenen-Shiatsu, das auf Babys übertragen wird. Vielmehr interessiert hier, wie sich die Meridiane entwickeln und welcher Meridian welchen frühkindlichen, aber auch späteren Entwicklungsschritt steuert. Was passiert zum Beispiel, wenn eine Störung im Laufe der Meridianentwicklung auftritt? Welche Auswirkung hat die Meridianentwicklung auf Erwachsene? Antworten erhalten wir, wenn wir die energetische Entwicklung berücksichtigen.
Meridiane und Entwicklungsphysiologie
Nach dem Konzept der energetischen Entwicklungstheorie stellen die Meridiane ein Kommunikationsnetzwerk zwischen dem sich entwickelnden kindlichen Bewusstsein und der Aussenwelt dar. Sie sind für die Integration von frühkindlichen Reaktionen und Reizen gleichermassen zuständig wie für die Entwicklung von Haltung, Bewegung sowie Persönlichkeit und Verhaltensmustern eines Kindes. Störungen in diesem sensiblen Zusammenspiel können sich in vielfältigen Auffälligkeiten zeigen, beispielsweise durch Schwierigkeiten im Bindungsaufbau, durch Wahrnehmungsstörungen, durch motorische Auffälligkeiten oder auch durch Entwicklungsstörungen oder Entwicklungsverzögerungen. Auch unsere Fähigkeit, wie wir später im Leben auf Stress reagieren, entstammt zum grössten Teil dieser frühkindlichen Zeit.
Eine Grundannahme besteht darin, dass nach der Geburt die 12 späteren Hauptmeridiane zwar angelegt sind, sich aber noch nicht entfaltet haben. Es handelt sich dabei eher um Areale im Bereich der Körpervorderseite, der Hinterseite und den beiden Körperseiten, in denen die dort verlaufenden Meridiane eng als Gemeinschaft zusammenarbeiten. So kann von insgesamt drei Gruppen mit jeweils vier noch nicht ausdifferenzierten Meridianen ausgegangen werden. Um dieses enge Verhältnis zum Ausdruck zu bringen werden die drei Meridiangruppen als Meridianfamilien bezeichnet. Denn hier handelt es sich um ein Verwandtschaftsverhältnis, das ein Leben lang Bestand hat. Wann immer es „eng wird im Leben“, das heisst, je länger anhaltende Störungen vorliegen, desto eher greifen wir auf die Zusammenarbeit der vier einer Familie zugehörigen Meridiane zurück – und das in jedem Alter.
Die drei Meridianfamilien und ihre Grundthemen
Die drei Meridiangruppen werden aufgrund ihres Verlaufs entlang des Körpers und zur einfachen Unterscheidung als vordere, hintere und seitliche Familie bezeichnet. Somit gehören zur vorderen Familie der spätere Magen-, Milz-, Dickdarm- und Lungen-Meridian. Zur hinteren Familie werden der Blasen-, Nieren-, Herz- und Dünndarm-Meridian gezählt und zur seitlichen Familie der Gallenblasen-, Leber-, Perikard- und Dreifach-Erwärmer-Meridian.
Jede Familie hat dabei ihr spezielles Entwicklungsthema:
Vordere Familie: Sie ist direkt nach der Geburt dafür zuständig, die grundlegenden Bedürfnisse des Neugeborenen zu befriedigen. Dazu gehören vor allem die Nahrungsaufnahme und Ausscheidung von dem, was der Körper nicht benötigt. Unter Nahrung wird nicht nur die (Mutter-) Milch verstanden, sondern auch die Atmung (Sauerstoffaufnahme und Kohlendioxidabgabe). Als weitere Fähigkeit lernt das Kind, in Beziehung zu treten. Hier erfährt es „Ich bin es wert, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen“. Auch für die Entwicklung der inneren und körperlichen Mitte ist die vordere Familie zuständig.
Hintere Familie: Schon Neugeborene schaffen es, in Bauchlage den Kopf gerade so weit zu heben, dass sie diesen auch drehen können, um die Atemwege freizuhalten. Im Laufe seiner Entwicklung richtet sich der Säugling allmählich immer weiter auf, um später in den Stand und letztendlich zum Laufen zu kommen. Mit der Aufrichtung eng gekoppelt ist die Sprachentwicklung. Diese Fähigkeiten, Aufrichtung und Sprachentwicklung, werden der hinteren Familie zugerechnet. Ebenso wird das für die meisten der frischgebackenen Eltern so wichtige Thema „Schlaf“ über die hintere Familie gesteuert.
Seitliche Familie: Mit der Entdeckung, sich drehen zu können, kommt immer mehr der eigene Wille ins Spiel. Nach dem Drehen kommt das Rollen als erste Fortbewegung im Raum hinzu. Jetzt kann alles erkundet werden, das Kind kommt an Dinge heran, die es vorher nicht erreichen konnte, und es lernt ein „Nein!“ kennen, wenn es gewisse Gegenstände nicht untersuchen soll. Das führt zu den ersten Frustrationserfahrungen und kann sich deutlich durch Wut und Ärger äussern. Die Trotzphase entwickelt sich.
Sobald alle grundlegenden Fähigkeiten einer jeden Meridianfamilie dem Baby zur Verfügung stehen, werden sie im Wechsel und im Zusammenspiel für weitere Entwicklungsschritte eingesetzt.
Die Entwicklungsthemen im späteren Leben
Auch wenn sich die Meridiane zunehmend weiter ausdifferenzieren, greift das Kind, wie auch der Erwachsene, immer wieder auf die grundlegenden Themen der drei Familien zurück.
So gibt die vordere Familie den Anstoss, die eigene Mitte zu finden, was sowohl die motorische Ebene als auch den emotionalen Bereich betrifft. Gerade wenn das Leben um uns herum turbulent ist, brauchen wir diese Fähigkeit ganz besonders. Konnten wir sie im Babyalter nicht entwickeln, kann sich das im späteren Leben ungünstig auswirken.
Der Entwicklungsschritt vom Krabbeln in den Stand, oder als Erwachsener die morgendliche Aufrichtung aus dem Bett, sind wiederum Qualitäten der hinteren Familie. Auch die Fähigkeit zu spüren, wann wir eine Pause brauchen und diese uns auch zu genehmigen, stammt aus dieser frühen Zeit.
Wie flexibel und neugierig wir durchs Leben gehen, verdanken wir der Entfaltung der seitlichen Familie. Auch sind die meisten Alltagsbewegungen auf einer Rotation des Körpers aufgebaut. Leider ist das aber oft eine Fähigkeit, die wir im Erwachsenenalter als erstes verlieren, wie die häufigen Stürze bei Senioren zeigen.
Es zeigt sich, dass im ersten Lebensjahr die Grundlagen für die vielen im späteren Leben so wichtigen Entwicklungsthemen gebildet werden. Daher können für diese frühe Zeit bestimmte Behandlungstechniken auch in der Behandlung von erwachsenen KlientInnen zur Anwendung kommen – insbesondere dann, wenn eines der Entwicklungsthemen im Fokus der Behandlung steht.
Text: Karin Kalbantner-Wernicke und Thomas Wernicke
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