Neue Wege finden:
Shiatsu bei Behinderung
Menschen mit einer Behinderung haben oft reduzierte soziale Kontakte, und dieser Umstand hatte sich während der Corona-Pandemie noch verschärft. Um dem wachsenden Bedürfnis nach Berührung entgegenzukommen, entstand im Arbeits- und Wohnzentrum in Kleindöttingen die Idee, Shiatsu anzubieten.
Das Arbeits- und Wohnzentrum für Menschen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung in Kleindöttingen, kurz AWZ, bietet rund 40 Menschen ein Zuhause sowie 100 Personen vielfältige Arbeitsplätze. Während der Pandemie mussten Besuche von Angehörigen teilweise ausgesetzt oder sehr stark reduziert werden. Darüber hinaus wurde auch das Personal des AWZ dazu angehalten, Berührungen auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. «Dieser Umstand hat mich zu einer unkonventionellen Lösung motiviert», erklärt Karin Filli, von 2014 bis 2024 Bereichsleiterin Wohnen. Sie sorgte sich um das Wohlbefinden der BewohnerInnen, auf das Berührungen und zwischenmenschliche Interaktionen einen grossen Einfluss haben. «In der Not wird man erfinderisch», so Karin Filli. Die zündende Idee war die Einführung von Shiatsu-Therapie, mit der sie selbst schon sehr positive Erfahrungen gemacht hatte.
Ein Versuch ist es wert
Nachdem Karin Filli ihre Idee eingebracht hatte, wurde sie mit vielen Fragen konfrontiert. Als erstes räumte sie mit dem gängigen Vorurteil auf, dass es sich bei der Shiatsu-Therapie um eine klassische Massage handelt. Weiter gab der Informationsfilm der Shiatsu Gesellschaft Schweiz den Mitarbeitenden wie auch den BewohnerInnen einen Einblick in die fernöstliche Therapieform. Dies weckte das Interesse aller.
Mit Unterstützung der SGS konnte anschliessend per Inserat eine geeignete Fachperson aus der Region gefunden werden: Brigitte Wehrli, die im Jahr 2009 die Ausbildung zur Shiatsu-Therapeutin absolviert hatte, nahm schon bald darauf ihre Tätigkeit im Therapie-Raum des AWZ auf.
Die Begegnung
Ein bisschen Nervosität war schon da vor dem ersten Kontakt, denn bis anhin hatte Brigitte Wehrli keine direkten Begegnungen mit Menschen mit einer Behinderung gehabt. Was gab es da wohl Besonderes zu beachten, wie würde sie auf die Menschen eingehen können und wie ihnen Shiatsu näherbringen? Brigitte hatte für diesen Einsatz keine speziell ausgerichtete Weiterbildung besucht. Mit offenem Geist und Herzen begrüsste sie die ersten BewohnerInnen und wurde mit ebensolcher Offenheit belohnt. Auch für diese war es Neuland, und die meisten liessen sich auf das «Abenteuer Shiatsu» ein.
Bei jeder neuen Behandlung sind die Gegebenheiten wieder anders, und eine Unterhaltung über das jeweilige Wohlbefinden ist in der Regel schwierig. So lenkt Brigitte das Gespräch bei der Begrüssung auf ein positives Geschehen im Alltag, wodurch sie die Person besser kennenlernen kann.
Oft können sich Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen nicht gut verbal verständigen. Sie können nicht mitteilen, was sie beschäftigt und wie es ihnen wirklich geht. Shiatsu ist eine Methode, die auch ohne viele Worte funktioniert, da sie auf Empathie beruht und über die tiefe Verbindung zwischen der behandelten Person und der Therapeutin/dem Therapeuten funktioniert.
Schlüssel zur erfolgreichen Zusammenarbeit
Nach drei Jahren Shiatsu-Therapie ist für alle klar: Die Therapie bewirkt Grosses! Jede Woche kommt Brigitte an zwei Halbtagen in die Institution und behandelt so pro Monat rund 12 BewohnerInnen. Dank gegenseitiger Offenheit, Flexibilität und Geduld gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem Personal erfolgreich. Da in der anfänglichen Probephase die BewohnerInnen klar zu erkennen gegeben hatten, dass sie Shiatsu schätzten, war es für Brigitte wichtig, sich ein Vorwissen zu den BewohnerInnen und ihrem Leben anzueignen, was sie durch einen Austausch mit den Begleitpersonen zustande brachte. Dadurch kann sie sich auch über die gegenwärtige Situation der verschiedenen Menschen und mögliche Behandlungsziele Klarheit verschaffen.
Die Bedeutung der persönlichen Beziehung in der Shiatsu-Therapie
Die persönliche Beziehung zwischen Shiatsu-TherapeutIn und der behandelten Person trägt massgeblich zum Erfolg der Therapie bei. Die Therapeutin ist bei den BewohnerInnen sehr beliebt, denn sie wissen, dass Brigitte sich Zeit für sie nimmt. Die BewohnerInnen geniessen die ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Behandlung dauert zwischen einer halben und einer ganzen Stunde und erfolgt in der Regel auf einer Liege. Nach einem kurzen Gespräch zur Kontaktaufnahme behandelt Brigitte die aktuellen Anliegen physischer oder psychischer Natur, mittels achtsamer Berührungen, dem Behandeln der Meridiane sowie der Mobilisation der Gelenke und Dehnungen von Körperpartien.
Bei einigen Menschen zeigen sich auch klare Themen, und die daraus folgenden Behandlungsziele, wie schmerzgeplagte Körperstellen wieder ins grosse Ganze einbinden, ruhiger werden und Entspannung finden, können verfolgt werden. Dabei spielt die Förderung der Körperwahrnehmung und des Körperbewusstseins eine zentrale Rolle. Die behandelte Person wird während und nach der Therapie dazu angehalten, ihren Körper besser zu spüren und Veränderungen, die sich ergeben, in ihrem Alltag zu verankern.
Erwartungen übertroffen
Brigitte nimmt die positive Resonanz aller Beteiligten dankbar wahr. Für sie ist es eine grosse Freude, mit den BewohnerInnen zu lachen, zu gestikulieren, ihnen liebevoll und von Herzen in vollkommener Akzeptanz zu begegnen. Sie schätzt, dass so vieles an Herzlichkeit und Dankbarkeit zurückkommt. Rückmeldungen erhält sie über freundliche Worte, Komplimente oder Freude, welche in Worten und Gesten ausgedrückt werden, ein komplett entspanntes Gesicht oder eine herzliche Umarmung .
Die achtsame Berührung im Shiatsu trägt dazu bei, dass die BewohnerInnen sich im eigenen Körper wohlfühlen und zufrieden sind. Die Wirkung von Shiatsu hat – so die Leitung – die Erwartungen bei weitem übertroffen. Die BewohnerInnen sind gut gelaunt, ausgeglichener und nach den Behandlungen tief entspannt und gelassen.
Der ganze Aufwand, welcher mit der Organisation, Planung und Finanzierung der Therapien einhergeht, ist schnell vergessen, wenn die Mitarbeitenden sehen, wie gestärkt die BewohnerInnen aus der Shiatsu-Behandlung zurückkehren.
Ein perfektes Matching
Von den positiven Veränderungen profitieren im Endeffekt nicht nur die einzelnen BewohnerInnen. Das gesamte Personal und auch das Umfeld der BewohnerInnen spüren sie: So gestaltet sich beispielsweise das Zusammenleben in der Wohngemeinschaft dank der grösseren Ausgeglichenheit harmonischer. Die Shiatsu-Therapie ergänzt eine allfällige ärztliche Behandlung und trägt zur Lebensqualität der Menschen bei. Ein Konzept, welches innerhalb der Institution mittlerweile fest verankert ist.
Das AWZ stellt jeden Monat einen Plan für die BewohnerInnen auf, die eine Behandlung wünschen. Es werden stets neue Schwerpunkte gelegt, welche die Rückmeldungen der BewohnerInnen, des Personals und der Angehörigen berücksichtigen. Eine Bewohnerin mit Depressionen zum Beispiel geniesst Zuwendung, Nähe, Geborgenheit, Akzeptanz und auch das Spielerische und Leichte im Shiatsu sehr. Sie ist nach der Behandlung fröhlich, offen, geerdet und bereit, am Alltagsgeschehen wieder teilzunehmen. Ein hyperaktiver Bewohner, der rastlos ist, fühlt sich nach dem Shiatsu ruhig, genährt, tief entspannt und ausgeglichen. Das empfinden auch seine MitbewohnerInnen und das Personal als Erholung pur. Für alle ist klar: Shiatsu ist gekommen, um zu bleiben.
Fallbeispiel: Dieters Geheimnis
Dieter, 50-jährig, ist in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen und wurde als Kind oft bestraft wegen seiner Andersartigkeit. Auch Dieter leidet sehr an der sozialen Isolation, er hat keinerlei Bezugspersonen ausserhalb des AWZ und erfährt auch so gut wie keine Körperkontakte. Entsprechend hat er eine geringe Körperwahrnehmung. Dieter kann mit Emotionen seines Umfelds nicht gut umgehen, entweder versteift er sich oder teilt körperlich aus.
Bei ihm fällt auf, dass im Shiatsu nur sehr kleine, sanfte Bewegungen möglich sind. Es braucht Geduld und neue Berührungsimpulse, um Dieters schwierige körperliche Erfahrungen aufzuwiegen. Der Körper erinnert sich nach ein paar Behandlungen an die zuvor positiv erlebten neuen Eindrücke, und mit der Zeit sind grössere Rotationen möglich. Aus dem ehrfurchtsvollen Schweigen zu Beginn ist ein leises Flüstern geworden, und nach ein paar Behandlungen redet er klar und freundlich. Dieter ist sehr aufmerksam, nimmt jede Berührung wahr und schaut auf, wenn die Stellung geändert wird. Manchmal ist sein Gesicht verkrampft und angespannt, körperliche Schmerzen hat er jedoch keine. Seine Unruhe, seine gelegentlichen Aggressionen und das Rupfen und Beissen sind nach und nach verschwunden. Die Begleitperson nimmt Dieter nach der Behandlung tief entspannt wahr. Sie spürt, dass Dieter so etwas ausstrahlt wie: «Shiatsu ist mein Geheimnis, das gehört mir».
Weitere Beiträge zum Thema
_Beiträge aus dem Shiatsu Magazin: Shiatsu für Menschen mit Behinderungen
_AWZ Kleindöttingen