Wir stellen vor: Sabine Bollinger, Vize-Präsidentin der Shiatsu Gesellschaft Schweiz (SGS)

Seit 2013 engagiert sich Sabine Bollinger im Vorstand der SGS. Sabine leitet neben ihrer Praxis (Shiatsu und WasserShiatsu) und der Vorstandstätigkeit auch das Sekretariat, die Finanzen und die Personaladministration in einem Architekturbüro. Als Therapeutin ist auch sie noch auf dem Weg zum eidgenössischen Diplom. Wir haben nachgefragt…

Was heisst es für dich, KomplementärTherapeutin zu sein?
Die Bezeichnung „KomplementärTherapeutin“ beinhaltet den Begriff „komplementär“. Für mich heisst das „ergänzend zur Schulmedizin“ oder, anders gesagt, Schulmedizin und KomplementärTherapie stehen sich einerseits gegenüber und bereichern sich andererseits gegenseitig. Wobei die Schulmedizin die Pathogenese ins Zentrum stellt und danach forscht, wieso Krankheit entsteht, während die KomplementärTherapie sich an der Salutogenese orientiert und danach fragt, wie Gesundheit erhalten und wiedererlangt werden kann. Dabei ist der Begriff „Gesundheit“ aus Sicht der KomplementärTherapie nicht absolut, sondern in Anlehnung an die Vorstellung von Yin und Yang wandelbar. Das heisst, es gibt kein absolutes Kriterium dafür, was gesund ist. In der KomplementärTherapie betrachten wir nicht nur die körperliche Ebene, sondern ebenso die geistige und seelische, wobei alle Ebenen gleichwertig sind. Wenn wir also unser Augenmerk nicht allein auf die körperliche Ebene richten, kann das beispielsweise bedeuten, dass wir einen Menschen mit Multipler Sklerose aus ganzheitlicher Sicht als gesund betrachten können – trotz der körperlichen Erkrankung.

Seit deiner Ausbildung vor 18 Jahren hat sich der Beruf der Shiatsu-Praktikerin in der Schweiz stark verändert. Heute bist du KomplementärTherapeutin. In welcher Hinsicht hat eine Neuinterpretation deines Rollenverständnisses und dessen der KlientInnen stattgefunden?
Vor 20 Jahren hatten wir in unserer Gesellschaft eine andere Sichtweise von Gesundheit. Heute spricht man ganz selbstverständlich von körperlicher, seelischer und geistiger Gesundheit. Entsprechend nehmen wir in der KomplementärTherapie die KlientInnen nicht als „gesund“ oder „krank“ wahr, sondern als Menschen, die sich in einem Wachstumsprozess in Richtung Selbstkompetenz und Fähigkeit zur Resilienz befinden. Damit hat sich auch das Rollenverständnis grundsätzlich verändert. In der KomplementärTherapie ist die Selbstreflektion der KlientInnen Teil des therapeutischen Prozesses – das ist sozusagen die Rolle und die Aufgabe der KlientInnen. Es gibt immer wieder KlientInnen, welche die Verantwortung für ihre Gesundheit abgeben möchten. Ich sehe meine Rolle darin, die Menschen dahin zu führen, dass sie für sich selbst und ihre Gesundheit Verantwortung übernehmen – oder diese gar nicht erst abgeben und dass ich sie in diesem therapeutischen Prozess unterstütze.

Welchen Stellenwert nimmt in der KomplementärTherapie das therapeutische Beziehungsfeld ein?
Die therapeutische Beziehungsgestaltung ist sehr wichtig. Ohne diese kann man zwar körperzentriert, nicht aber prozesszentriert arbeiten. Ich bin nicht die Therapeutin, die alles weiss. Vielmehr begleite ich die Klientin unvoreingenommen in ihrem Prozess. Im Laufe der Zeit und mit zunehmender Erfahrung habe ich gelernt, das Beziehungsfeld immer klarer wahrzunehmen. Zu Beginn meiner therapeutischen Praxis blieb ich meistens ausserhalb dieses Feldes. Heute gehe ich ins Feld hinein und versuche die Prozesse zu begleiten, welche sich zeigen und in Gang kommen.

Wie gewichtest du die Gesprächsführung?
Persönlich erscheint mir vor allem das Gespräch nach der Behandlung wichtig. Das Vorgespräch dient in meiner Arbeit eher dem Erfassen des momentanen Befindens. Im Nachgespräch versuche ich, gemeinsam mit den KlientInnen zu erfassen, was passiert ist und was sich wie anfühlt. Oft sind die Nachgespräche zentrale Momente der Behandlung.

Was heisst für dich als KomplementärTherapeutin prozesszentriertes Arbeiten an konkreten Beispielen?
Geht man in einen Prozess, so kennt man weder seinen Verlauf noch sein Ziel. Ein Beispiel: Eine schwangere Frau im sechsten Monat kommt zum Shiatsu. Die Schwangerschaft ist ungewollt, und sie findet keinen Kontakt zum Kind. Die Beziehung zum Vater ist schlecht, den Job hat man ihr gekündigt. Alles in allem eine unglückliche Ausgangslage. Aus medizinischer Sicht ist zwar alles gut, aber auf der emotionalen und seelischen Ebene ist die Situation sehr schwierig. Die Herausforderung ist nun, ruhig in die Behandlung zu gehen, ohne sich von der Tatsache unter Druck setzen zu lassen, dass es nur noch drei Monate bis zur Geburt sind. Dies, obwohl sich die Klientin als Ziel der Behandlung ganz konkret eine entspannte Geburt wünscht. Dennoch geht es darum, klar im Moment zu bleiben und auch der Klientin zu kommunizieren, dass sie nicht auf ihr Ziel fokussiert, sondern im Hier und Jetzt bleibt und wahrnimmt, was mit ihr in jedem Moment passiert. Was das Problem ist, wissen wir beide. Auch geht es darum, sich immer wieder abzusichern, ob wir gemeinsam auf dem richtigen Weg sind und dass die Klientin spürt, ob der Prozess für sie der richtige ist. Dabei achten wir darauf, was sich gut anfühlt. Und so kommen wir sachte zur Wahrnehmung, dass der Bauch der Klientin sich entspannt und weich wird – nun kann sie ihrem Baby wohlwollend Raum geben. Sie nimmt die Kindsbewegungen besser war, und es gelingt ihr, ihre momentane Situation anzunehmen und sich auf die Geburt zu freuen.

Prozessarbeit sollte dabei immer etwas Sanftes sein. Die stressfreien und sanften Prozesse sind die heilsamen und nachhaltigen.

Wir stellen vor
In unserer Vorstellungsserie möchten wir der Shiatsu Gesellschaft Schweiz ein noch persönlicheres Bild geben und spontan immer wieder Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen und Bereichen vorstellen und interviewen.

Interview: Cristina Frey