«Schmerz ist ein unüberhörbares Warnsignal dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist»

In einem zweiteiligen Interview spricht Zita Sieber, seit über dreissig Jahren Shiatsu-Therapeutin, darüber, was Schmerz ist, wie Schmerz empfunden wird und wie Shiatsu helfen kann, Schmerz zu lindern.

Zita Sieber, in der letzten grossen europäischen Schmerzstudie aus dem Jahr 2005 gaben 1,5 Millionen Menschen an, an chronischen Schmerzen zu leiden. Wie beurteilen Sie die Situation?
Das ist rund ein Fünftel der Bevölkerung. Gemäss meinen Beobachtungen ist diese Zahl sicher weiter angestiegen.

Was sind die Auslöser immer wieder auftretender oder gar chronisch gewordener Schmerzen?
Die beiden Hauptfaktoren sind sicher Stress und Bewegungsmangel, wobei diese häufig direkt miteinander zusammenhängen. Fehlhaltungen im Alltag, die durch die überwiegend sitzende Tätigkeit nicht ausgeglichen werden, Unfälle beim Sport sowie eine starke Abnützung des Bewegungsapparats können Schmerzen auslösen, die nicht so einfach wieder verschwinden. Häufig führen aber auch traumatische Erlebnisse, die nicht aufgearbeitet wurden, zu wiederkehrenden Schmerzen.

Schmerzen sind gemäss einer Befragung der Shiatsu Gesellschaft Schweiz der häufigste Grund, Shiatsu in Anspruch zu nehmen. Welchen Formen begegnen Sie in Ihrem Praxisalltag am häufigsten?
Am häufigsten treffe ich auf Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates, sprich Rücken-, Schulter-, Nacken- und Gelenkschmerzen, aber auch Kopfschmerzen, was sicher auf unsere heutige, wie oben beschriebene, Lebensweise zurückzuführen ist. Frauen wenden sich zudem oft auch wegen Menstruationsschmerzen und Migräne an mich.

Bei Schmerzen erscheint der Griff zum Medikament oft als der einfachste. Hat sich dieses Verhalten in den letzten Jahren verändert?
Ja, vor allem sind Betroffene nicht mehr bereit, über längere Zeit Schmerzmittel einzunehmen. Sie beginnen, nach Alternativen zu suchen und zeigen mehr Bereitschaft, Selbstverantwortung für sich und ihr Handeln zu übernehmen.

In welchem Stadium wenden sich Schmerz-Betroffene in der Regel an Sie?
Wer selbst bereits Erfahrung mit einer alternativen oder komplementären Therapie wie Shiatsu gemacht hat, wendet sich bei akuten Schmerzen oft gleich direkt an seine Therapeutin bzw. seinen Therapeuten. Ansonsten meist dann, wenn schulmedizinische und andere Behandlungen den Schmerz nicht zu lindern vermögen oder wenn der Schmerz ein chronisches Stadium erreicht hat.

Wie nehmen Sie Menschen mit Schmerzen zu Beginn einer Behandlung wahr?
Oftmals sind sie in ihrer natürlichen Bewegung eingeschränkt und etwas ängstlich. Viele sind vor allem sehr dankbar, dass sich jemand ihrer annimmt.

Was ist Schmerz aus Ihrer Sicht und aus der ganzheitlichen Perspektive des Shiatsu?
Schmerz ist ein unüberhörbares Warnsignal, das uns darauf hinweist, dass etwas nicht in Ordnung ist. Oft sind ihm bereits etliche Zeichen vorausgegangen, die die Betroffenen übergangen, ignoriert oder verdrängt haben. Manchmal ist Schmerz aber auch der körperliche Ausdruck eines psychischen Schmerzes. Shiatsu macht keinen Unterschied zwischen physischem und psychischem Schmerz. Persönlich sehe ich Schmerz als Teil des Heilungsprozesses und, verbildlicht gesprochen, als Spitze des zu entdeckenden Eisbergs. Auf der Energieebene ist Schmerz eine Stagnation der Lebensenergie oder fachlich ausgedrückt eine Ki-Stagnation.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Schmerzen und Emotionen bzw. welchen Einfluss haben Emotionen auf das Schmerzempfinden und auf den Umgang mit Schmerzen?
Schmerz kann uns mit der Angst vor Krankheit und mit unserer Verletzlichkeit konfrontieren. Er führt vor Augen, dass auch der Körper seine Grenzen hat. Menschen mit einem stabilen Gleichgewicht gehen leichter mit Schmerzen um und handeln oftmals schneller. Unsichere und emotional instabilere Menschen empfinden sich häufiger als Opfer des Schmerzes. Sie nehmen den Schmerz meist stärker wahr und leiden öfters länger, bevor sie sich Hilfe holen. Anhaltende Schmerzzustände beeinträchtigen das emotionale Gleichgewicht extrem. Angst, mangelnde Geduld und Selbstmitleid wiederum verstärken das Schmerzempfinden, weil der Fokus stark auf sich selbst und die eigene Geschichte gerichtet ist. Wut hingegen scheint Schmerzen eher zu unterdrücken. Echte Trauer, Freude und Liebe lassen den Schmerz «schmelzen» und erweitern den Raum der Wahrnehmung. Der Schmerz wird als Teil und nicht als einzig Existentes wahrgenommen.

Was können Sie für Menschen mit Schmerzen tun?
Mit Shiatsu, ich persönlich arbeite erfolgreich mit Shin So Shiatsu, kann ich Symptome effizient behandeln und sehr oft Schmerzfreiheit oder eine markante Linderung herbeiführen. In meinen Behandlungen schaffe ich einen Raum, in dem sich alle Gefühle und Gedanken, die an die Oberfläche dringen, zeigen dürfen. Sie müssen nicht mehr verdrängt werden und der Schmerz kann dank der Erfahrung von Entspannung und Weite integriert und bestenfalls aufgelöst werden.

Biographische Angaben:
Zita Sieber, Shiatsu-Therapeutin SGS, Shiatsu-Diplom 1989, ist Dozentin für Shin So Shiatsu an diversen Shiatsu-Schulen.