Schmerz aus Sicht des Shiatsu
Schmerzerfahrung – sei sie körperlich oder seelisch – ist ein subjektives seelisches Erleben. Schmerz kann Angst machen, was zu Vermeidungstechniken verleitet. Doch diese Strategie erhöht oft den Leidensdruck. Im Shiatsu geht es deshalb darum, den Schmerz zuzulassen und ihm Raum zu geben, so dass die Enge der Vermeidung überwunden wird und der Schmerz sich auflösen kann.
Für die Gesundheit und Lebensfähigkeit des Menschen ist es zentral, dass er Schmerz empfinden kann. Solch meist akute Schmerzen werden durch Schädigung oder übermässige Reizung von Körpergewebe hervorgerufen. Die betroffene Person erkennt eine Gefahrensituation und bringt sich in Sicherheit – indem sie etwa die Hand von einer Hitzequelle wegzieht. Bei dieser Art von Schmerz weiss man in der Regel genau, was ihn ausgelöst hat. Ein zentraler Aspekt der Behandlung eines solchen Schmerzes besteht darin, die Ursache auszuschalten.
Der häufigste Schmerz hat keine eindeutige Ursache
Der weitaus häufigere Schmerz unter dem Menschen in der modernen Gesellschaft leiden, ist von anderer Natur. Sie leiden unter Schmerzen, deren Ursache sie nicht auf eine eindeutige Quelle zurückführen können und die sie entsprechend nicht verstehen. Diese Schmerzen sind häufig chronisch.
Chronische Schmerzen sind weit verbreitet. Man schätzt, dass in Europa etwa 20% aller Erwachsenen unter chronischen Schmerzen leiden[1]. Zu diesen Schmerzen zählen etwa Kopf-, Rücken- oder Gelenkschmerzen, Schmerzen im Bereich anderer Organe oder solche, die beispielsweise durch eine Krebserkrankung ausgelöst werden.
In der Shiatsu-Praxis begegnen uns häufig Menschen mit solchen Schmerzzuständen. Hinzu kommen seelische Schmerzen, die hier gleichberechtigt neben körperlich erlebten Schmerzen angeführt werden. Aus energetischer Sicht besteht zwischen physischen und psychischen Schmerzen kein fundamentaler Unterschied.
Das Schmerzerleben ist subjektiv
Schmerzerfahrung ist kein primär körperliches Phänomen, sondern immer ein subjektives seelisches Erleben. Schmerz gehört zu den subjektivsten Phänomenen des Lebens, objektiv scheint es ihn nicht zu geben. Die gleichen physiologisch nachweisbaren Nervenimpulse können von der einen Person als schmerzhaft erlebt werden, während sie von einer anderen kaum wahrgenommen oder sogar als lustvoll erlebt werden.
Arten von Schmerz
Was ist Schmerz eigentlich? Aus Shiatsu-Sicht gibt es viele verschiedene Ursachen, aber nur zwei Arten von Schmerz. Die eine Art von Schmerz wird verursacht durch akute Schädigung oder übermässige Reizung von Körperzellen und -gewebe. Die andere Art von Schmerz ist Ausdruck stagnierender Lebensenergie.
Die allgemein übliche Einteilung in akuten und chronischen Schmerz ist in diesem Zusammenhang nicht sinnvoll. Zwar ist der Schmerz, der durch Schädigung oder übermässige Reizung von Körperzellen verursacht wird, überwiegend ein akuter Schmerz. Schmerzen auf Grund einer Ki-Stagnation (wenn die Energie nicht frei fliesst) können sich jedoch sowohl als akuter wie als chronischer Schmerz manifestieren.
Die Beschwerdebilder der Energie-Stagnation reichen von akuten Ischiasschmerzen oder Migräne bis zu chronischen Rücken- oder Gelenkschmerzen, vom seelischen Schmerz einer akuten, tiefen Verletzung bis zu solchen im Rahmen einer längeren Lebenskrise.
Schmerz ist und macht Angst
Eines ist allen Schmerzzuständen gemeinsam: In der Regel führt die Angst vor ihnen zum Versuch, sie vermeiden und kontrollieren zu wollen. Gerade dadurch kann der Schmerz und der damit verbundene Leidensdruck aber verstärkt werden.
Daher spielt Angst vor dem Schmerz bei allen chronischen Zuständen eine zentrale Rolle. Oft wird ein Schmerzzustand auf diese Weise immer weiter verstärkt, bis er kaum mehr zu ertragen ist. In solchen Fällen tritt die Anspannung und die Unfähigkeit, sich zu öffnen, zu entspannen und den Schmerz zuzulassen deutlich zutage. Wenn letzteres aber gelingt, kann der Schmerz deutlich nachlassen oder sich ganz auflösen.
Die Aussage „Schmerz ist Angst“ ist auch zutreffend, weil Schmerz Angst macht. Schmerz führt uns unsere Verletzlichkeit und Sterblichkeit vor Augen. Der Mensch hat Angst davor, dass der Schmerz Ausdruck einer Erkrankung sein könnte, die immer schlimmer wird und in einem schrecklichen Leid endet. Diese Vorstellung entsteht meist unbewusst. Für Shiatsu-TherapeutInnen jedoch ist sie oft deutlich fühlbar.
Die Schulmedizin möchte die Chronifizierung des Schmerzes vermeiden, der Körper soll den Schmerz nicht „lernen“. Damit beleuchtet sie die komplexe Verschachtelung verschiedener Vermeidungsebenen. Damit verhindert sie aber auch, dass ein Mensch seinen Schmerz erfahren kann, was für viele Zustände des Schmerzes eine Lösung darstellen könnte.
Die schulmedizinische Ansicht geht davon aus, dass Schmerz etwas Schlechtes ist, nicht sein darf und rigoros bekämpft werden muss. Schmerz ist eine Krankheit, die beseitigt werden sollte. Im Shiatsu wird dies anders gesehen: Der Schmerz ist nicht in erster Linie die Folge einwirkender Faktoren von aussen, sondern das Ergebnis der aktiven Lebendigkeit des Menschen. Wenn eine Person ihren Schmerz zulassen kann, öffnet sie sich; die energetische Enge, die das Schmerzerleben auslöst, wird abgemindert.
Raum und Weite lindern den Schmerz
In der Shiatsu-Behandlung entspannen sich KlientInnen, schon dies kann zur Minderung des Schmerzerlebens führen. Die entspannte und offene Berührung im Shiatsu bietet Weite an. TherapeutInnen arbeiten direkt mit den schmerzenden Bereichen, aber auch mit den Resonanzzonen im Körper. Dadurch kann Verbindung und Raum entstehen. Die Enge der Vermeidung wird aufgelöst.
Ebenso wichtig ist Vertrauen in die Situation und in die behandelnde Person, sodass sich in der Entspannung idealerweise eine Öffnung einstellt, ein tiefes, befreiendes Loslassen.
Die Atmung leistet einen wertvollen Beitrag bei der Minderung von chronischen Schmerzen. Alles was atmet, öffnet sich und verbindet sich mit der Umwelt. Diese Tatsache kann genutzt werden, indem die KlientInnen angeleitet werden, mit einem schmerzhaften Bereich in Kontakt zu treten und durch ihn hindurch zu atmen. Je entspannter und ruhiger die Atmung, umso grösser die Wirkung.
Im Shiatsu wird Schmerz nicht als etwas Feindseliges und Bedrohliches gesehen. Vielmehr spiegelt der Schmerz die Person und ihre Lebensweise wider. Im Kontakt mit dem Schmerz erfahren KlientInnen Realität und gleichzeitig die Möglichkeit, diesen loszulassen.
TherapeutInnen sind geschult darin, fein auszuloten, bis zu welchem Punkt jemand sich mit Gewinn auf diesen Prozess einlassen kann und arbeiten Hand in Hand mit den schulmedizinischen Therapien.
Wilfried Rappenecker, Text ursprünglich erschienen im Shiatsu Magazin 2016
[1] Quelle: Pain Alliance Europe, Survery on Chronic Pain, 2017, https://www.pae-eu.eu/wp-content/uploads/2017/12/PAE-Survey-on-Chronic-Pain-June-2017.pdf