Shiatsu in der Behandlung des Post-Covid-Syndroms

KlientInnen mit Long Covid-Beschwerden finden zunehmend den Weg ins Shiatsu. Wir sprachen mit Nadine Deringer, Therapeutin in Zürich, wie Shiatsu in der Behandlung von Long Covid unterstützen kann.

Was sind typische Beschwerden bei Long Covid? Womit kommen die KlientInnen?
Das häufigste Symptom ist die Fatigue, eine quälende Form von Müdigkeit und Erschöpfung. Diese Art der Müdigkeit ist für Mitmenschen schwer zu verstehen, da man von aussen nicht viel davon sieht. Es gibt dazu ein schönes Gedankenexperiment, die «Löffeltheorie». Darin wird gezeigt, wie Menschen mit Einschränkungen im Alltag mit ihren Ressourcen umgehen. Dabei stehen die Löffel für die zur Verfügung stehende Energie. Gesunde Menschen haben einen grossen Vorrat an Löffeln. Eingeschränkte Menschen haben nur eine bestimmte Anzahl Löffel pro Tag. Jede Aktivität kostet mindestens einen Löffel. Wenn nur noch wenige Löffel vorhanden sind, muss man sich gut überlegen, wofür man diese, also die restliche Energie, einsetzt.
Die Fatigue tritt wellenförmig auf. Das verlockt, in ruhigen Phasen mehr zu erledigen, früh wieder in den Beruf einzusteigen, wieder mehr Sport zu treiben. Wenn man aber in die Überforderung zurückfällt, zieht das neue Symptome nach sich wie zum Beispiel Kopfweh oder Herzrasen. Es ist deshalb wichtig, die Belastung nur sehr langsam zu steigern, lieber zu bremsen und sich mehr Zeit zu geben. Auch in der schulmedizinischen Reha scheint diese Einsicht angekommen zu sein. Man beginnt nicht gleich mit Physiotherapie, sondern versucht einen langsamen Einstieg z. B. über Ergotherapie und baut später das Therapieangebot aus.
Zu den häufigen Beschwerden bei Long Covid zählen auch brain fog (Konzentrationsstörungen[1]), eine generell eingeschränkte Belastbarkeit, Atemnot, Kopf-, Muskel- und Gliederschmerzen oder längerdauernder Geschmacks- und Geruchsverlust. Ebenso treten neurologische und psychische Beschwerden auf, wie Sensibilitäts- oder Schlafstörungen, Ängste und Depressionen oder sogar PTBS (posttraumatische Belastungsstörung). Eine englische Studie hat gezeigt, dass Post-Covid-Betroffene ein erhöhtes Risiko tragen, an neurologischen oder psychischen Störungen zu erkranken.

Komplementär-Therapeutin Deringer erklärt: Ich selbst bin eigentlich keine ängstliche Person. Aber nach der eigenen Erkrankung nehme ich bei mir eine Ängstlichkeit wahr, die vorher nicht da war. Mir ist es wichtig, mein Umfeld und mich zu schützen. Deshalb bin ich vorsichtig in meinen Kontakten und trage in gewissen Situationen auch draussen eine Maske.

Wie behandelt man die Beschwerden aus komplementärtherapeutischer Sicht?
Grundsätzlich geht es um Erschöpfung, um Leere. Entsprechend muss aus komplementärtherapeutischer Sicht zuerst eine Stärkung erfolgen. Das Yin soll gestärkt, das Ki aufgebaut werden.
Die Selbstregulation ist aus dem Gleichgewicht geraten und geschwächt. Dies aufgrund einer Autoimmunreaktion oder weil das Virus noch im Körper aktiv ist. Das führt zu einer geringen Belastbarkeit.
Die Genesungskompetenz ist eingeschränkt. Die Beschwerden betreffen Körper, Geist und Seele gleichermassen, haben aber auch grosse soziale Auswirkungen. Das können Existenzängste, fehlende emotionale Ausgeglichenheit oder das Trauma der Erkrankung sein. Die Ängste können sich auch darauf beziehen, dass die Beschwerden vom Umfeld nicht ernst genommen werden.
Zur Stärkung der Genesungskompetenz helfen wir KlientInnen, ihre Körperwahrnehmung zu verbessern. Auch Übungen für zuhause können dabei unterstützen, etwa Meridiandehnungs-Übungen, Meditationen oder progressive Muskelentspannung. Hier muss man wieder darauf achten, dass KlientInnen sich nicht überfordern. Die Erfahrungen der KlientInnen aus der Behandlung oder aus ihrem Alltag nehmen wir im begleitenden Gespräch auf.

Wie kann Shiatsu bei der Behandlung von Long Covid unterstützen?
Shiatsu aktiviert den Parasympathikus, den beruhigenden Teil des Nervensystems. Dies senkt den Blutdruck und die Herzfrequenz, führt zu einer vertieften und freieren Atmung und reduziert die Muskelspannung. Dadurch werden Energien freigesetzt und kommen ins Fliessen. Das Herzrasen und die Enge in der Brust können gelindert werden, es entsteht mehr Raum. Der Brustkorb kann sich öffnen, und Betroffene können freier atmen. Beschwerden wie Kopfschmerzen und brain fog klingen ab, der Kopf fühlt sich nicht mehr so dumpf an und der Geist wird wieder klar und leicht. In meiner Erfahrung profitieren Muskeln und Glieder von der Faszienarbeit im Shiatsu. Gliedmassen werden sanft gehalten und bewegt. So kommen die Faszien, Gelenke und Muskeln wieder in Bewegung, werden geschmeidiger und das Ki kann besser durch den ganzen Körper fliessen.
Wichtig ist die Sanftheit im Shiatsu. Es braucht einen Mittelweg zwischen Beruhigen und Mobilisieren. Bei Long Covid sind grosse Rotationen oder dynamische Bewegungen nicht sinnvoll. Das ruhige und sanfte Bewegen der Gelenke und Faszien hilft, ohne dabei zu ermüden oder Entzündungsprozesse anzustossen. Ziel ist es, das System nicht mit Impulsen zu überfordern. Hier ist weniger mehr.
Die mitfühlende Grundhaltung der Shiatsu-TherapeutInnen ist Voraussetzung für den heilenden Prozess. Die Beschwerden werden ernst genommen und nicht in Frage gestellt, sondern offen angenommen. Dazu gehört auch das wertfreie Verständnis, wenn KlientInnen zurzeit beispielsweise Antidepressiva nehmen. Diese Medikamente können bei Schlafstörungen und Schmerzen helfen.

Für wen ist die Unterstützung durch Shiatsu bei Long Covid geeignet?
Natürlich bin ich der Meinung, dass Shiatsu für alle geeignet ist, besonders jedoch für Menschen, die bereit für Prozessarbeit sind und die ihre Genesung selbst in die Hand nehmen wollen. Sie sind bereit, zuhause Übungen zu machen, die – auch wenn manchmal sehr einfach –, sehr wirkungsvoll sein können. So kann eine Übung beispielsweise «nur» darin bestehen, den eigenen Atem zu beobachten und dabei in eine achtsame Haltung zu kommen.
Grundsätzlich hilft Shiatsu auch Betroffenen, die Mühe haben loszulassen, sich endlich wieder zu entspannen; insbesondere KlientInnen, die unter starkem Druck stehen, sei es wegen brain fog, der Rückkehr zur Arbeit oder Schwierigkeiten innerhalb der Familie. Sie können ihren Körper besser spüren, kommen in die Entspannung und bauen Vertrauen in eine mögliche Genesung auf.
Wichtig ist eine gleichzeitige schulmedizinische und allenfalls psychotherapeutische Begleitung der KlientInnen. Wenn im Körper noch akute Entzündungen zu spüren sind, wird die Shiatsu-TherapeutIn eine erneute medizinische Untersuchung anraten.

Du bist selbst von Long Covid betroffen, wie hilft dir persönlich Shiatsu im Umgang damit?
Meine Erfahrung als Therapeutin und die innere Ausrichtung, die ich im Shiatsu praktiziere, helfen mir, in meinen eigenen Körper zu spüren und zur Ruhe zu kommen. Ich kann dankbar sein für das, was ist und auch für das, was noch möglich ist. Das hilft mir im Alltag, mit der Situation umzugehen und im Moment zu bleiben.
Als Klientin einer Shiatsu-Behandlung schätze ich das Entspannen auf allen Ebenen. Die Berührung verstärkt die Tiefenentspannung. Und Shiatsu steht im Einklang mit den anderen Therapien. Denn es darf nicht zu viel sein, sondern muss mit den anderen Massnahmen für mich machbar bleiben.
Ich persönlich profitiere auch von der Kombination von Shiatsu mit TCM-Kräutern. Die Kräuter helfen, die Entzündung zu beruhigen und das Blut zu aktivieren. Hierbei ist es mir wichtig, mit einer in Kräutern erfahrenen TCM-Therapeutin zusammenzuarbeiten.

Interview: Anita Oswald

[1] brain fog = «Gehirnnebel», der klares Denken verunmöglicht. Man nimmt an, dass kleine Entzündungen im Gehirn dieses diffuse Gefühl erzeugen.