Shiatsu bei Essstörungen

Ausgezehrt, fast durchscheinend dünn – wenn wir an Essstörungen denken, kommen uns Bilder von magersüchtigen Mädchen in den Sinn. Doch unter Essstörungen fallen auch weniger sichtbare Krankheiten wie Bulimie, Essanfälle sowie die zwanghafte Beschäftigung mit gesundem Essen. Immer häufiger leiden auch Männer an einer Essstörung.

In der Schweiz erkranken etwa 3.5% aller Menschen an einer Essstörung. Das Verhältnis Frauen zu Männern ist ungefähr vier zu eins. Während die Magersucht meist im Jugendalter entsteht, können sich die anderen Essstörungen auch später herausbilden. Die Genesung von diesen komplexen Erkrankungen dauert wiederum oft mehrere Jahre und benötigt intensive therapeutische Begleitung. Bis zu 10% aller Betroffenen sterben an den Folgen der Essstörung.*

Die Ursachen von Essstörungen sind vielfältig. Es können genetische, psychische, verhaltensbezogene oder umweltbedingte Gründe vorliegen. Manche davon mögen wenig bedeutend erscheinen, doch im Zusammentreffen mit anderen Faktoren können sie die Entwicklung einer solchen Krankheit anstossen. Essstörungen sind zudem oft mit Depressionen, Zwängen, sozialen Phobien oder Angststörungen verbunden.

Risikofaktoren für den Ausbruch einer solchen Krankheit sind neben einer übermässigen Beschäftigung mit Schönheitsidealen und Diäten sowie dem damit verbundenen gesellschaftlichen Druck auch Probleme mit Bezugspersonen, z.B. die Trennung der Eltern oder Mobbing.

Essstörungen gehören zu den psychosomatischen Krankheiten mit Suchtcharakter. Die Betroffenen üben rigoros Kontrolle über ihr Essverhalten aus. Dadurch erleben sie ein Gefühl von Halt und Macht. Das kontrollierte Essen hilft, negative Emotionen zu bewältigen. Manchmal schämen sich Betroffene dafür, dass sie essen und die Schamgefühle führen wiederum zu Essanfällen (z.B. bei Bulimie). Dabei ist ihnen durchaus klar, dass sie sich mit ihrem Verhalten schaden. Die Spannung zwischen diesem Wissen und dem Verlangen nach Kontrolle kennzeichnet die Sucht.

Menschen, die an einer Essstörung erkranken, leiden meist an einem negativen Selbstbild und niedrigem Selbstwertgefühl. Ihre Körperwahrnehmung ist verzerrt: Sie erkennen ihren realen Zustand im Spiegel nicht, nehmen ihren Körper auch bei Untergewicht als dick wahr und sehen überall Fettpolster. Die eigene Körperlichkeit ist ihnen fremd geworden.
Betroffene orientieren sich oft stark nach aussen. Anerkennung erhalten sie über Leistung, Aussehen und demonstrierte Mässigung. Komplimente für ihr Fasten und ihre Figur unterstützen ihre Falschwahrnehmung. Im Gegensatz bewirkt Kritik von anderen eine weitere Verschlechterung des Selbstbilds und führt zu noch mehr Selbstkontrolle.

Mit Shiatsu wieder zu sich finden
So vielschichtig die Erkrankung ist, so umfassend muss auch die Behandlung sein. Jede Person bringt ihre individuelle Geschichte und ihren Krankheitsverlauf mit. Hier können komplementärtherapeutische Behandlungen wie Shiatsu auf verschiedenen Ebenen ansetzen.

Als Körpertherapie kann Shiatsu auf der Ebene des fehlenden Körperbewusstseins wirken. Indem die Verbindung zwischen Körper und Seele gestärkt wird, entsteht eine neue Balance und Spannungen werden abgebaut. Der eigene Körper kann wieder neu wahrgenommen werden. Shiatsu unterstützt hier, das Vertrauen in sich zu stärken.

Wer sich selbst besser spürt, sich mehr zutraut, kann mit Anforderungen gelassener umgehen und benötigt weniger Kontrollmechanismen. Betroffene erfahren, dass sie auch loslassen können. Die Berührungen und die nonverbale Kommunikation zwischen TherapeutIn und KlientIn lassen wahrnehmen, was die kognitiv gesteuerte Kontrolle im Alltag nicht zulässt. Durch die generelle Entspannung kann Shiatsu helfen, die Schlafqualität zu verbessern. Magenprobleme wie Reflux können gemildert und Verdauungsstörungen reguliert werden. Das Nervensystem wird gestärkt, was sich positiv auf die innere Ruhe auswirkt. Die selbstregulatorischen Fähigkeiten des Körpers und der Seele werden angesprochen. Mit begleitenden Übungen kann die Körperwahrnehmung weiter gefördert werden. So wird es möglich, eine neue Stabilität zu erfahren.

Die Aufmerksamkeit, die oft nach aussen gerichtet war, wendet sich nach innen, wodurch Signale des Körpers besser wahrgenommen werden. Die KlientInnen werden darin bestärkt, auf die eigenen Ressourcen zu vertrauen, was die Resilienz erhöht. Eine realistische Eigenwahrnehmung und ein fürsorglicher Umgang mit dem eigenen Köper werden gefördert, und das gestärkte Selbstbild unterstützt die eigene Auseinandersetzung mit der Essstörung.

Shiatsu kann in Ergänzung zu konventionellen Behandlungen wie Verhaltenstherapie, Ernährungsberatung und psychologische Betreuung eine wichtige Rolle für die Genesung einnehmen. Shiatsu-TherapeutInnen begrüssen und unterstützen die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der komplexen Behandlung von Essstörungen. Dabei ist es wichtig, dass sich Betroffene möglichst früh in Behandlung begeben. Das steigert die Chance, den Ausstieg aus der Krankheit zu finden. Die Behandlung einer Essstörung braucht Zeit und ist oft mit Rückschlägen verbunden. Umso wichtiger ist eine nachhaltige Begleitung, bei der Shiatsu wertvolle Unterstützung bieten kann.

Krankheitsbilder Essstörung

Weitere Informationen zu den Krankheiten und Therapiemöglichkeiten: Schweizerische Gesellschaft für Essstörungen, www.sges-ssta-ssda.ch

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_ Makko-Ho-Übungen

* Quelle statistische Angaben:
Bundesamt für Gesundheit, Studie «Prävalenz von Essstörungen in der Schweiz», 2010-2012, https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/gesund-leben/gesundheitsfoerderung-und-praevention/koerpergewicht/essstoerungen.html 
und Vernetzungsgruppe Essstörungen Aargau, https://xn--essstrungen-aargau-h3b.ch/de/Betroffene/Verlauf/Was-sind-die-Folgen-einer-Essstoerung