In der Stärke berührt werden
Unsere Gesellschaft orientiert sich primär daran, wie eine Krankheit entsteht. Daraus lässt sich im besten Fall ableiten, was es braucht, um wieder gesund zu werden. Dieses Modell wird in seiner Vereinfachung der Komplexität des Menschen oft nicht gerecht.
Die Erkenntnis, dass Körper, Geist und Psyche sich wechselseitig beeinflussen, ist in der Salutogenese (Lehre des Gesunden) definiert. Die geistige Haltung einer Situation gegenüber trägt massgeblich dazu bei, dass ein Mensch auch unter schwierigsten Bedingungen seine Gesundheit bewahren kann. Hier kommt das Komplementäre der KomplementärTherapie (KT) ins Spiel. Ergänzend zur schulmedizinischen, auf die Krankheitsvermeidung ausgerichteten, Sicht stellt die KT die Frage, wie ein Mensch das eigene Wohlbefinden selbstkompetent und nachhaltig fördern kann. Dafür muss geklärt werden, was für diesen Menschen Wohlbefinden bedeutet und was ihn motiviert, einen Veränderungsprozess anzugehen. Schliesslich geht es darum herauszufinden, welche seiner Fähigkeiten ihn unterstützen, ein gesundes Gleichgewicht zu finden.
Was bedeutet Selbstregulation?
Das Menschenbild der KT beinhaltet die Annahme, dass es der Natur des Menschen entspricht, sich zu regulieren und immer wieder in den Zustand des Gleichgewichts zurückzufinden. Diese Fähigkeit erkennen wir zum Beispiel, wenn wir uns physisch anstrengen. Unser Körper sucht umgehend einen Weg, um nach der Anstrengung wieder zur Normalität zurückzufinden: der Puls verlangsamt sich und wir schwitzen, um die Köpertemperatur zu regulieren. Dieser Vorgang beschreibt den Begriff der «Selbstregulation».
Damit sich ein System gut regulieren kann, braucht es innere und äussere Unterstützungshilfen, welche bewusst oder unbewusst dazu dienen, sich den Anforderungen anzupassen. Im Idealfall verhelfen diese Werkzeuge zu einer Regulation, hin zu mehr Wohlbefinden. Dies sind unsere Ressourcen, unsere Quellen der Stärke. Innere Ressourcen wie Vertrauen, Mut und Zuversicht entstehen durch unsere Erfahrungen, wir tragen sie in uns. Äussere Ressourcen entstehen aus Lebenssituationen und sind eher veränderlicher Natur. Das können Mitmenschen, Tiere, Orte oder Tätigkeiten sein.
Die KT fragt nicht nur danach, wie sich Gesundheit anfühlt, sondern auch, in welchen Lebensbereichen sie sich zeigt und welche Ressourcen der Mensch mitbringt, um aus eigener Kraft wieder zu mehr Wohlbefinden zu kommen.
Wie finden wir von der Bedürftigkeit zur Stärke?
Die Menschen finden den Weg in Shiatsu-Praxen, weil sie sich Linderung von einem Leiden wünschen. Dieses Leiden nimmt naturgemäss viel Raum ein. Die Gedanken kreisen darum, wie es entstanden ist und wie es wieder weggeht. Mit der KT kann eine Beschwerde nicht geheilt, oder ‘weggemacht’ werden. Aber Menschen können darin begleitet werden, sich besser wahrzunehmen und zu regulieren. So finden sie zur Stärke und können sich den Herausforderungen des Lebens besser anpassen.
Oft ist es nicht einfach, sich auf diesen, an der Gesundheit orientierten Prozess einzulassen, wenn ein Leiden gross ist. Damit ein Mensch sich dem Gesunden zuwenden kann, braucht es eine angemessene Anerkennung der Bedürftigkeit. Viele Leiden, insbesondere diejenigen auf der psychischen Ebene, beruhen auf dem Versuch des sich selbst regulierenden Systems, sich einer Herausforderung anzupassen. Es kann davon ausgegangen werden, dass dieser Lösungsversuch in seinem Ursprung nicht selten existenziell und der einzig mögliche Umgang mit der Situation ist. So ist es naheliegend, dass das Leiden als Ausdruck eines Lösungsversuchs respektiert und gewürdigt werden muss.
Dazu kommt, dass ein Leiden, welches auf einer ehemals existenziell wichtigen Anpassung beruht, nicht ohne Widerstand aufgegeben wird. In unserem Nervensystem ist sie immer noch als rettende Strategie abgespeichert. Soll sie losgelassen und mit einer heute dem Wohlbefinden zuträglicheren Strategie ersetzt werden, erfordert dies Zeit und Vertrauen.
Der Weg führt über die Begegnung mit dem Leiden. In der Praxis ist die Arbeit von KT-TherapeutInnen vergleichbar mit der eines Höhlenforschers oder einer Fallschirminstruktorin. Sie bieten Anleitung und Sicherheit. Getragen durch die therapeutische Beziehung und mit guten inneren und äusseren Ressourcen ausgestattet, erkunden KlientInnen ihre Befindlichkeit. Wie fühlt es sich im Körper an? Was will gesehen werden? Welches Bedürfnis steckt dahinter? So zeigen sich neue Wege der Bewältigung von Herausforderungen.
Was bedeutet es konkret, in der Stärke berührt zu werden?
Die Begegnung mit unserem Anliegen kann auf verbaler Ebene begleitet werden, findet aber auch in jeder einzelnen Berührung am Körper statt. Dies passiert unter anderem über die Meridiane.
Im Shiatsu werden die Meridiane in unterstützender Weise berührt und unsere körperlichen und psychischen Stärken angeregt. Unser System wird an die ihm innewohnenden Ressourcen erinnert und beginnt sich wieder selbst zu regulieren.
In der Berührung liegt die Frage: was kann ich dir anbieten, was ist hilfreich für dich, damit du dich mit deiner Gesundheit, deiner Stärke verbinden kannst?
Das System des Menschen sucht eine Antwort auf das Angebot, sich zum Beispiel auszudehnen, Sicherheit zu finden, loszulassen oder wieder in Verbindung zu kommen. Es sucht sich den Weg zu mehr Wohlbefinden. Das bringt eine Reaktion hervor, welche zu einem neuerlichen, weiterführenden Angebot leitet. So entsteht ein nonverbaler Dialog, ein Forschen mit verschiedenen Berührungsqualitäten. So wird Selbstregulation ermöglicht und bewusst erlebbar gemacht.
Unsere Stärke kann auch verbal berührt werden, indem wir nach den Ressourcen gefragt werden, welche uns bisher dienlich waren, Herausforderungen zu meistern. Wenn wir nach Wünschen und Visionen gefragt werden, aktiviert dies ebenfalls unsere Kraft, sich dahin zu bewegen. Durch ihre verbale und physische Präsenz unterstützen die TherapeutInnen uns, selbst durch schwierige Empfindungen zu navigieren. Wir erleben, wie sich diese verändern, was uns in unserer Regulationsfähigkeit und Selbstkompetenz stärkt.
Worin besteht der Unterschied zwischen «in der Stärke berührt werden» und «positivem Denken»?
Es gibt etliche Bücher mit Titeln, die uns suggerieren, mit genügend positiven Affirmationen gelinge uns jede Herausforderung. Hier bewegen wir uns auf der kognitiven Ebene. Die im Körper abgespeicherten Stärken eines Menschen in den Fokus zu rücken, ist ungewohnt.
Unser Nervensystem ist mit dem Hirn verbunden. Allerdings gelangen viermal mehr Informationen vom Körper zum Hirn als umgekehrt. Das positive Denken ist folglich nicht besonders effizient. Zudem sind viele Erlebnisse, besonders wenn sie aus früher Kindheit stammen, kognitiv nicht erreichbar. Sie sind im Nervensystem abgespeichert. Wenn wir positiv denken, ohne es zu fühlen, ist es so, wie wenn wir im Keller aufräumen wollen, dabei aber in der Küche zu Werke gehen.
Der entscheidende Unterschied liegt in der körperlichen und emotionalen Wahrnehmung. Mit der therapeutischen Berührung wird diese Wahrnehmung aktiviert. Wir steigen in den Keller. Wir werden danach gefragt, wie sich eine Verletzung, eine Ressource oder ein erreichtes Ziel als körperliche Empfindung anfühlt. Indem wir uns den Ressourcen zuwenden, wird unsere Stärke berührt und kann so physisch und emotional empfunden werden. Wir können diesen Vorgang einerseits als Selbstregulation beobachten und gleichzeitig entstehen neuronale Verknüpfungen. Durch wiederholtes physisches Empfinden wächst aus einem zarten Pflänzchen ein kräftiger Baum. So bringt die Zuwendung zur Stärke eine nachhaltige Veränderung.
Dieser Artikel ist im Zusammenhang mit dem Tageskongress der Kó-Lebensschule vom Januar 2023 mit dem Thema Stärken im Fokus entstanden und hier in gekürzter Fassung abgebildet.
Autorin: Tamara Odermatt
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