Selbstwahrnehmung und Entscheidungen

Jeden Tag treffen wir Entscheidungen. Ob es darum geht, was wir anziehen, welchen Film wir uns ansehen, ob wir mit dem Fahrrad oder dem Auto zur Arbeit fahren oder wie wir unsere Beziehungen gestalten – jede Entscheidung, ob gross oder klein, kann sich auf die Qualität unseres Lebens auswirken. Aber wie können wir die Qualität unserer Entscheidungen verbessern? Eine Antwort könnte in der therapeutischen Praxis des Shiatsu liegen.

Wie treffen wir Entscheidungen?
Die Entscheidungsfindung, die manchmal furchtbar kompliziert und manchmal blitzschnell zu sein scheint, ist ein mehrstufiger Vorgang, an dem mehrere Aspekte unserer Kognition und unserer Gefühle beteiligt sind. Die Identifizierung des Problems oder des Entscheidungsbereichs, das Sammeln von Informationen, die Bewertung von Alternativen bis hin zur endgültigen Entscheidung: Das sind die uns bekannten Phasen der Entscheidungsfindung. Doch oft ist uns der Wert der Entscheidungen, die wir treffen, nicht klar, selbst wenn wir alle Vor- und Nachteile abwägen. In vielen Fällen treffen wir Entscheidungen auf der Grundlage unserer Emotionen.

Der Körper, die Emotionen und die Entscheidungsfindung
Lisa Feldman Barrett, eine wichtige Vertreterin der modernen Neurowissenschaften, hat sich eingehend mit der Rolle von Emotionen bei der Entscheidungsfindung befasst. In ihrer Arbeit argumentiert Barrett, dass Emotionen nicht einfach Reaktionen auf äussere Ereignisse sind, sondern Konstrukte unseres Gehirns, die auf einer Kombination aus körperlichen Empfindungen, vergangenen Erfahrungen und Zukunftserwartungen beruhen. Wenn unsere Emotionen davon beeinflusst werden, wie wir die Welt und uns selbst wahrnehmen und interpretieren, dann kann uns die Verbesserung unserer Interozeption helfen, unsere Emotionen besser zu verstehen und dadurch auch besser abgestimmte Entscheidungen zu treffen.

Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio hat ebenfalls untersucht, wie eng Körper und Emotionen im Entscheidungsprozess miteinander verbunden sind. Laut ihm sind Emotionen ein integraler Bestandteil der menschlichen Rationalität und spielen eine entscheidende Rolle bei der Wahl der für das Überleben am besten geeigneten Handlungen.

Eine neuere Perspektive in der kognitiven Forschung betont die Bedeutung des Körpers und seiner Wahrnehmungen für die Gestaltung des Geistes und des Denkens. Diese Sichtweise unterstützt die Idee, dass Therapien wie Shiatsu, welche die Verbindung zwischen Geist und Körper stark verbessern, einen bedeutenden Einfluss auf mentale Prozesse wie die Entscheidungsfindung haben können.

Die Bedeutung der Interozeption
Im Shiatsu spielt Interozeption (Wahrnehmung der Vorgänge aus dem Körperinneren) eine wichtige Rolle, sowohl für die TherapeutInnen als auch für die KlientInnen.

Interozeption für Shiatsu-TherapeutInnen
Die Shiatsu-Therapeutin durchläuft bei der Kontaktaufnahme mit dem Klienten einen Entscheidungsprozess, der mit der Beurteilung des Falles und der Wahl der zu leistenden Arbeit beginnt und mit der sorgfältigen Beobachtung der Reaktion des Gewebes auf die Berührung und selbst der kleinsten Reaktionen des Klienten fortgesetzt wird. Dieser Prozess erfordert einen starken Kontakt zum eigenen interozeptiven Dialog: Die Therapeutin muss in der Lage sein, die Reaktionen des Körpers des Klienten zu „spüren“ und seine Vorgehensweise entsprechend anzupassen. Dies erfordert eine tiefe Selbstwahrnehmung und die Fähigkeit, im Moment präsent zu sein.

Die Interozeption der KlientinInnen
Shiatsu kann dazu beitragen, unsere Fähigkeit zu „fühlen“ oder unsere „Interozeption“ zu verbessern. Während der Behandlung erleben die KlientInnen auf die eine oder andere Weise einen tiefen und ruhigen Kontakt mit sich selbst und ihren Körperempfindungen und verfeinern so ihre Interozeption, auch ohne dass sie unbedingt eine andere Anleitung als die Behandlung selbst mit ihrem tiefen oder leichten Druck, ihrem Rhythmus und ihren Dehnungen benötigen.

Erst kürzlich durfte ich eine junge Klientin in diesem Prozess begleiten.

Maria* ist eine Schülerin mit guten Noten, insbesondere in Naturwissenschaften. Sie steht vor einer schwierigen Entscheidung: Sie wurde an zwei grossen Universitäten angenommen und hat nur noch ein paar Wochen Zeit, sich für eine zu entscheiden.

Sie war schon früher bei mir im Shiatsu; nun kontaktiert sie mich, um Unterstützung zu erhalten. Ich schlage ein paar kurz aufeinanderfolgende Sitzungen vor.

Maria berichtet, dass ihr die Behandlungen helfen, auf die Angst, die dadurch entsteht, dass sie nicht weiss, welche Entscheidung sie treffen soll, zu ‘hören’, anstatt zu versuchen, sie zu vermeiden. Nach den Behandlungen fühlt sie sich entspannt. Allmählich, auch durch die Praxis der Hara-Achtsamkeit (eine der Praktiken, die mit Shiatsu verbunden sind), erkennt Maria, dass eine der beiden Optionen die ist, von der sie DENKT, dass die Eltern sie bevorzugen, während die andere die Entscheidung ist, mit der sie selbst sich wohl fühlt.

Schlussfolgerungen
Einmal mehr kann Shiatsu, dessen Wurzeln Tausende von Jahren zurückreichen, von der Forschung profitieren. Mit Achtsamkeit und Wissen angewendet, kann es die Funktion des Körpers in seiner Rolle als Mitverfasser unserer Gedanken und Gefühle erfahrbar machen. Durch die Förderung der Selbstwahrnehmung kann es den Menschen helfen, in ihrem täglichen Leben selbstbestimmtere und bewusstere Entscheidungen zu treffen.

Das macht Shiatsu nicht nur zu einer kraftvollen Behandlungsmethode, sondern auch zu einer Brücke zwischen Emotionen, Selbsterkenntnis und Entscheidungsfindung, hin zu einem erfüllten Leben.

Alice Zagato, Shiatsu-Therapeutin

*Name geändert

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