Shiatsu und Yoga: Den Verstand verlieren und zur Besinnung kommen

Interview mit Ivana Scotti, Yoga-Lehrerin und Co-Leiterin der Geschäftsstelle der Shiatsu Gesellschaft Schweiz (SGS)

Power Yoga, Yoga für Führungskräfte, Dog Yoga – das Feld von Yoga-Möglichkeiten ist ziemlich unübersichtlich geworden. Wir wollten von Ivana Scotti ein persönliches Bild von Yoga erhalten. Im Gespräch treten interessante Parallelen zum Shiatsu auf.

Was ist Yoga?
Der einflussreiche Yoga-Lehrer B.K.S. Iyengar sagt dazu: «Das Wort Yoga ist abgeleitet von yui, was vereinigen, befestigen bedeutet, also die Aufmerksamkeit sammeln und richten, um sie für die Meditation nutzbar zu machen. Yoga ist demnach die Kunst, einen fahrigen und zerstreuten Geist zur Sammlung und Einkehr zu bringen»[1]. Den indischen Yogis ging es also nicht primär darum, ihre Gesundheit zu fördern. Sie beschäftigten sich vor allem mit Meditation und versuchten, möglichst lange im Lotussitz sitzen zu können. Um dies zu erreichen, entwickelten sie Übungen, die den Körper geschmeidig machen und den Geist beruhigen. Das war der Ursprung der körperlichen Yoga-Übungen.

Was bewirken die einzelnen Übungen? Thematisierst du dies in deinen Stunden?
Jede Übung beeinflusst die Praktizierenden auf der körperlichen, psychisch/geistigen wie auch energetischen Ebene und jeder Übung werden bestimmte Nutzen, beispielsweise für die Immunabwehr oder die Verdauung, zugeschrieben. Ich erwähne dies aber höchstens kurz oder am Ende einer Lektion. Denn mein Ziel ist, die Übenden weg vom rationalen Denken, hin ins Empfinden zu bringen. Sie sollen spüren, wie sich eine Position anfühlt.

Ganz im Sinne von ‹Verliere deinen Verstand und komme zur Besinnung›[2]! Dann arbeitest du also eher mit Visualisierungen?
Ja, bildhafte Anleitungen helfen, die Wirkungskraft zu verstärken: Das Bild von Hüften, ‹die sich öffnen wie Schmetterlingsflügel›, kann eine Dehnung erleichtern und dadurch vertiefen. Dabei helfen oft auch die Namen der Übungen. ‹Der Krieger› lässt uns beispielsweise die Kraft darin besser spüren.

Auch Shiatsu-TherapeutInnen arbeiten oft mit Visualisierungen oder lassen Wörter, die im Gespräch auftauchen, bildhaft in die Behandlung einfliessen.
Im Shiatsu achten wir auch auf den Atem der KlientInnen, und geben bei Bedarf Unterstützung, um diesen zu vertiefen und freier fliessen zu lassen. Was für eine Rolle spielt der Atem im Yoga?
Die Atmung ist enorm wichtig, und die Möglichkeiten, damit zu arbeiten, sind vielfältig. Ich leite meine Gruppe an, ihren Atem dorthin zu lenken, wo etwas passiert. Beispielsweise dorthin, wo es eng ist. Das Wichtigste ist der Fluss des Atems. Bewegungen können auch darauf abgestimmt werden, dass beim Einatmen eine Bewegung passiert und beim Ausatmen die nächste. Die Atmung hilft aber auch als Fokus, um nicht mit den Gedanken abzuschweifen. Pranayama, ein Teil von Yoga, widmet sich dem Zusammenführen von Körper und Geist durch Atemtechniken. Hier kann beispielsweise der Atem gezielt angehalten werden, um dann in alle Richtungen freigesetzt zu werden.

Korrigierst du die Leute?
Ich biete höchstens einmal Unterstützung, indem ich eine Hand an eine Körperstelle lege, um die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken und dort beispielsweise mehr Loslassen zu erlauben. Die Berührung soll dabei vermitteln: Du bist okay, so wie du bist, und hier ist die Richtung, in die es noch weitergehen könnte.

Ki, die universelle Energie, die alles durchströmt, ist ein wichtiges Konzept für Shiatsu-TherapeutInnen. In der Therapie sollen Stauungen aufgedeckt und der Ki-Fluss verbessert werden. Kann man das mit ‹Prana› im Yoga vergleichen?
Prana, der Lebensatem, ist eigentlich überall. In uns, in gesundem Essen, in einer Pflanze. Prana ist die Energie, die das Universum auf allen Ebenen durchdringt. Prana kann aber auch verloren gehen infolge schlechter Emotionen, Alkohol- und Drogenkonsum oder anderem. Ich denke, das ist eine sehr ähnliche Vorstellung wie das Konzept von ‹Ki›.

Ist Yoga gesund?
Yoga ist gesund, aber nur wenn man achtsam auf seinen Körper hört und die Grenzen akzeptiert. Hier ist auch der Lehrer oder die Lehrerin gefordert. Sonst können beispielsweise Rückenschäden die Folge sein.

Ist Yoga egoistisch? Es übt ja jeder nur für sich alleine…
Wenn jeder bei sich ist, in sich ruhend und spürend auf seiner ‹Insel›, der Yoga-Matte, findet trotzdem ein stiller Austausch statt, es entsteht eine Gruppenenergie, die unterstützt. Meine Philosophie ist, dass Yoga glücklich machen soll und wir nicht um jeden Preis, weil wir eben Yogis sind, den Handstand beherrschen müssen. Es ist schön zu sehen, wie die Leute am Ende lächeln und zufrieden rausgehen. Und dies hat dann auch eine Auswirkung auf ihr Umfeld.

Beobachtest du in den letzten 10 Jahren eine Veränderung in den Leuten, die Yoga besuchen?
Ich beobachte, dass die Schlussentspannung für viele sehr schwierig ist und dass dieses Phänomen zugenommen hat. Schon nur fünf Minuten dazuliegen, ist schwierig geworden, viele Leute werden kribbelig oder sie schlafen sofort ein. Einige verlassen sogar den Raum vor der Schluss-Entspannung.

Welchen Yoga-Stil würdest du empfehlen?
Zum Einsteigen ist Hatha Yoga geeignet, bei dem auch ohne Vorkenntnisse alles mitgemacht werden kann. Die SchülerInnen verweilen einige Atemzüge lang in der Asana, lösen sie auf, spüren nach und wechseln in die nächste Asana. Vinyasa Yoga ist fliessend und eher für Fortgeschrittene geeignet. Gerade gestresste Leute kommen mit diesen fliessenden Bewegungen gut zur Ruhe. Yin Yoga ist eher passiv, aber trotzdem sehr intensiv für Körper und Geist. Es ist gut geeignet für Erfahrenere.

Die interessanten Parallelen der Konzepte und der zugrundeliegenden Geisteshaltungen von Yoga und Shiatsu ermöglichen es uns, Synergien zu nutzen. Beispielsweise, indem Shiatsu-TherapeutInnen mit dem Ausüben von Yoga eine Möglichkeit haben, ihrem eigenen Körper Sorge zu tragen und diesen für die oft fordernde Arbeit auf dem Futon zu stärken. Auch können den KlientInnen geeignete Yoga-Übungen mitgegeben werden, um Prozesse, die in einer Shiatsu-Therapie angestossen wurden, zu vertiefen. In bestimmten Fällen mag es auch sinnvoll sein, Shiatsu-Therapie mit einer Yoga-Therapie zu kombinieren.

Interview: Andrea Pfisterer

[1] Licht auf Pranayama, Das grundlegende Lehrbuch der Atemschule des Yoga. B.K.S. Iyengar, O.W. Barth, 2012, S. 27.

[2] Lose your mind and come to your senses, Zitat von Fritz Perls, Psychiater und Psychotherapeut; Gründer der Gestalt-Therapie (1893 –1970)