«Transferieren» im komplementärtherapeutischen Prozess anhand von zwei Praxisbeispielen

Komplementärtherapeutisches Handeln erfolgt in den vier Phasen begegnen, bearbeiten, integrieren und transferieren. In der vierten Phase des Transfers geht es darum, die Klienten* gezielt darin zu unterstützen, die positiv erfahrenen Veränderungen aus der Sitzung im Alltag weiterzuführen und verankern zu können. Zwei Beispiele aus der Praxis zeigen, dass der Prozess des Transferierens sehr unterschiedlich sein kann.

Die beiden folgenden Erfahrungsberichte stammen von einer seit mehreren Jahren praktizierenden KomplementärTherapeutin in der Methode Shiatsu.

Moritz**, Ende 30, geistig beeinträchtigt, mit sehr einschränkender Angststörung und Spasmen
Moritz kommt seit drei Jahren einmal im Monat ins Shiatsu. Obwohl er während der Sitzung loslassen kann, seine Spasmen und Muskelverspannungen weniger werden und es mir gelingt, ihn bei aufkommender Angst in die Ruhe und Sicherheit zurückzuführen, spüre ich immer wieder eine Unzufriedenheit mit dem Therapieergebnis. Vor einigen Monaten machte ich dann eine sehr wichtige Erfahrung mit Moritz, was meine Erwartungen und Therapieziele mit ihm veränderte.

Als Moritz an diesem Tag zu mir kommt, sind seine Gelenke sehr steif. Er zeigt keinen Raum in sich, ist verschlossen, zugesperrt, versunken in sich selber. Die Beine und Arme stehen quasi in der Luft ab, als wäre er eine steife Puppe. Er weint, hat Panik, seine Augen sind weit geöffnet. Ich lasse mich auf ihn ein, berühre ihn nur sanft mit der Idee von Liebe, Weichheit, Raum und Vertrauen. Innert weniger Minuten entspannt er sich, seine Gelenke werden im Rahmen seiner Möglichkeiten weit und beweglich. Dies berührt mich sehr.

Nach der Sitzung hinterfrage ich mich aber zugleich wieder, ob diese Entspannung als Ergebnis ausreicht. Als Moritz von seinem Betreuer kurze Zeit später abgeholt wird, fragt ihn dieser: «So Moritz, hast du entspannen können?» Danach erzählt er mir, dass Moritz an diesem Morgen nicht aus dem Bett kam und steif da lag. Als er ihm gesagt habe, dass er dann halt nicht ins Shiatsu gehen könne, sei plötzlich alles einfacher gegangen, da er unbedingt kommen wollte.

Dies machte mir bewusst, dass der Transfer, welcher für Moritz im Moment möglich ist, in der Stille und in der Einsamkeit geschieht. Er empfindet Shiatsu als seine Oase, wo er sich geborgen, berührt und geliebt fühlt und er einen Moment loslassen und sich entspannen kann. Das lässt er sich nicht nehmen. Wir gehen den Weg weiter zusammen und sind geduldig. Nachhaltigkeit im Alltag zu erreichen und selbstkompetent im Alltag umzusetzen ist und kann für mich bei Moritz nicht das primäre Ziel sein. Viel wichtiger ist es, ihm ein positives Körpergefühl zu geben und Zuneigung zu zeigen. So kann Moritz wenigstens einmal pro Monat Leichtigkeit erfahren. Dass er dies bei mir erleben darf, sehe ich jedes Mal in seinen Augen.

Klara**, Mitte 50, Psychologin, leidet an einer rheumatischen Krankheit
Klara entschied sich aufgrund ihrer rheumatischen Erkrankung für Shiatsu als Begleitung zur Schulmedizin. Beide merkten wir jedoch schnell, dass diese dauernden Schmerzen vieles überdecken. So haben wir in der Zielformulierung zwischenzeitlich Abgrenzung ihres Beruf- und Privatlebens aufgenommen.

Ein Beispiel eines Transfers mit Klara: In der stillen Kommunikation zeigt mir Klara in der ersten und zweiten Sitzung, dass sie ihre Schultern so gerne loslassen möchte. Zu Beginn der dritten Sitzung äussert sie diesen Wunsch selbst und formuliert es so: «Darf ich dir heute meinen Arm und meine Schulter voll und ganz abgeben?» Als ich beginne sie zu berühren, leitet sie mich an, so dass ich die richtige Position finde. Gleichzeitig biete auch ich ihr Möglichkeiten an. Als wir die Position gefunden haben, verweilen wir minutenlang in der Ruhe. Zuckungen sind spürbar, der Atem verändert sich, Ruhe entsteht.

Im anschliessenden Gespräch berichtet mir Klara, dass ihr in der Ruhe der Wunsch des Abgebens ihrer Schmerzen ganz stark ins Bewusstsein gekommen sei. Gleichzeitig seien Bilder aus ihrer Arbeit aufgetaucht, die aufdeckten, dass Klara die Probleme ihrer Arbeit gedanklich mit nach Hause nimmt. Im weiteren Gespräch suchen wir zusammen nach Ideen, wie sie jeweils am späteren Arbeitsnachmittag ein Ritual einführen könnte mit dem Ziel, die Themen ihrer Patienten abzulegen, damit sie ohne Last nach Hause kann. Als Aufgabe und Teil des Transfers in den Alltag stelle ich ihr die Aufgabe, bis zum nächsten Mal ein passendes Ritual zu finden.

Bei Klara erlebe ich die prozesszentrierte Arbeit in der Bearbeitung, der Integration und auch im Transfer sehr lebendig, interaktiv und partnerschaftlich.

Weiterführende Informationen zum Thema:
_ Berufsbild KomplementärTherapeutIn, OdA KT

*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.
** Namen wurden geändert.