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Burnout: Interview mit Stephan Scherrer, lic. phil. Psychologe ‒ Teil 2

In der Arbeitswelt wird immer mehr Leistung erwartet. Druck und Geschwindigkeit steigen. Erhebungen zufolge ist die Arbeitsleistung, die heute in einer Stunde erbracht wird, mehr als doppelt so hoch wie in den 1960er-Jahren. Immer mehr Menschen haben Mühe, diesem Druck Stand zu halten. Wird die Erschöpfung zu gross, kann sie zu einem Burnout führen. Stephan Scherrer, lic. phil. Psychologe, führt im zweiten Teil des Gespräches mit der Shiatsu Gesellschaft Schweiz (SGS) aus, wann Betroffene zu ihm kommen, wie ein Burnout diagnostiziert und therapiert wird und wie einem Burnout vorgebeugt werden kann.

Herr Scherrer, zu welchem Zeitpunkt wenden sich Burnout-Erkrankte üblicherweise an Sie?
Der häufigste Fall ist nach wie vor, dass sie erst dann zu mir kommen, wenn der Zusammenbruch bereits erfolgt ist und sie vom Hausarzt krankgeschrieben und zu mir überwiesen worden sind. Es gibt aber auch immer wieder Betroffene, die von ihren Partnerinnen oder Partnern, von der Familie oder vom Arbeitsumfeld auf Veränderungen aufmerksam gemacht werden und denen geraten wird, sich helfen zu lassen. Leider entscheiden sich nur wenige frühzeitig und von selbst für ein Erstgespräch bei einem Spezialisten, wenn sie merken, dass sie alleine nicht weiterkommen.

«Burnout-Betroffene empfinden sehr viel Scham.»

Wie geht es stark erschöpften Menschen?
Stark erschöpfte Menschen sind verunsichert. Sie empfinden oftmals sehr viel Scham, weil sie es ihrer Vorstellung zufolge nicht geschafft haben, eine schwierige Situation zu meistern bzw. ein Problem zu lösen, und weil das für die meisten neu und ungewohnt ist. In einer ersten Phase braucht es deshalb sehr viel Beziehungsarbeit, um die Betroffenen abzuholen, und es braucht konkrete Unterstützung, um ihnen zu helfen. Mein Anspruch ist, bei allen Burnout-Patienten bereits in der ersten Behandlung ein Gefühl der Erleichterung auszulösen und ihnen zu zeigen, dass sie jemand versteht, auch wenn sie selbst noch nicht verstehen, was passiert ist und wie es weiter geht.

Wie wird ein Burnout diagnostiziert?
Um ein Burnout zu diagnostizieren, muss eine spezialisierte Person ein klinisches Interview durchführen. Es gibt zwar für die Diagnose standardisierte Fragebögen, diese dienen jedoch primär wissenschaftlichen Zwecken und greifen zu wenig tief, um die meist komplexen Situationen von Menschen mit Burnout zu erfassen. Ein erfahrener Psychotherapeut stellt Fragen, gibt Raum für Antworten und hört gut zu, um auch die Zwischentöne herauszufiltern. Dies hilft auch andere psychische Krankheiten auszuschliessen. Ebenfalls ist ein medizinischer Check-up unerlässlich, um körperliche Erkrankungen auszuschliessen, die auch zu Erschöpfung führen können.

«Die Erklärung ‚Burnout‘ gibt den Patienten Sicherheit.»

Wie wichtig ist überhaupt die Bezeichnung «Burnout» als Diagnose?
Die meisten meiner Patienten wollen am Ende eines Abklärungsgespräches die Diagnose gar nicht benannt haben. Sie wollen wissen, wie sie aus der Situation herauskommen. Für mich als Therapeut ist die Diagnose Burnout insofern wichtig, als ich damit dem Betroffenen seinen Zustand erklären kann. Dies gibt ihm Sicherheit, was auch für die Therapie essenziell ist.

Wie wird ein Burnout therapiert? Gibt es ein bestimmtes Vorgehen?
Es gibt natürlich gewisse Abläufe, aber jede Therapie ist und muss individuell sein. Dabei ist es wichtig, alle bei einem Burnout betroffenen Ebenen – ­also die seelische, geistige, körperliche und soziale –ganzheitlich miteinzubeziehen. Als Psychologe verbinde ich Psychotherapie und Coaching. Viele Burnout-Betroffene sind mental sehr stark und vernachlässigen ihren Körper und ihre Seele respektive deren Bedürfnisse oft über Jahre oder gar Jahrzehnte. Ihnen fehlt häufig ein gut ausgebildetes Körperbewusstsein. Deshalb arbeite ich seit längerem mit Shiatsu-Therapeutinnen und -Therapeuten zusammen. Shiatsu hilft, die Selbstheilungskräfte der Betroffenen zu mobilisieren. Shiatsu ist auch sehr gut geeignet, um die Körperwahrnehmung zu stärken. Handelt es sich um ein schweres Burnout, kann ein temporärer Klinikaufenthalt sinnvoll sein – gerade wenn jemand keine Unterstützung vom sozialen Umfeld hat oder sich wegen Konflikten zu Hause nicht erholen kann.

«Burnout-Patienten müssen lernen, sich helfen zu lassen.»

Wie sind die Erfahrungen, wenn die Patienten eine zusätzliche Therapie wie Shiatsu in Anspruch nehmen?
Ich befürworte es sehr, wenn Betroffene unterschiedliche Therapieerfahrungen machen und so auch andere Personen und Methoden zu ihrer Genesung beitragen können. Ergänzend zur Psychotherapie empfehle ich sehr gerne eine Körpertherapie wie Shiatsu. Der Mensch wird so sowohl seelisch-emotional als auch körperlich-emotional optimal begleitet und kann dadurch schneller genesen.

«Das Wichtigste ist Zeit!»

Was ist bei einer Burnout-Therapie wichtig?
Zeit. Zeit ist das Wichtigste überhaupt. Oft meinen Patienten und Patientinnen, dass fünf Sitzungen reichen und dann alles wieder gut ist. Doch dann beginnen wir erst richtig. Das muss aber nicht heissen, dass ein Burnout eine jahrelange Therapie nach sich zieht. Wichtig ist, dass die Therapie auf die Gegenwart fokussiert, einen Blick in die Zukunft wirft und Aspekte der Vergangenheit miteinbezieht, die in der bestehenden Situation blockieren. Der Heilungsverlauf dauert rund ein halbes Jahr bis eineinhalb Jahre, je nach Schweregrad des Burnouts und je nach Situation des Betroffenen. Aber Zeit ist definitiv einer der wichtigsten Heilfaktoren.

Stichwort Reintegration: Wie finden Betroffene den Weg zurück in die Arbeitswelt?
Zuerst müssen die Betroffenen entscheiden, ob sie im gleichen Job und im gleichen Unternehmen weiterarbeiten oder allenfalls eine neue Tätigkeit in einer anderen Branche suchen wollen. Aus Studien weiss man, dass etwa ein Drittel aller Burnout-Betroffenen an die gleiche Stelle und in das gleiche Unternehmen zurückkehren, ein Drittel zwar in das gleiche Unternehmen, aber an eine andere Stelle, und ein Drittel orientiert sich beruflich neu. Bleibt die betroffene Person im gleichen Unternehmen, sollte zunächst zusammen mit dem Arbeitgeber und weiteren involvierten Parteien das genaue Vorgehen besprochen werden. Ausserdem sind Menschen nach einem Burnout nicht von Anfang an wieder voll einsatzfähig und arbeiten in der Reintegrationsphase in der Regel Teilzeit. Dabei ist es wichtig, diesen Prozess weiterhin therapeutisch zu begleiten, um zu verhindern, dass Betroffene wieder in alte Verhaltensmuster fallen.

«Durch das Burnout finden viele Menschen zu einem Leben, das besser zu ihnen passt.»

Wie geht es den Menschen in der Regel nach zwei Jahren?
Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn sich Patienten und Patientinnen bei mir melden und sagen, dass die Zeit des Burnouts fürchterlich für sie war, sie aber trotzdem froh sind, es erlebt zu haben. Viele Menschen lernen durch eine solche Extremsituation, ein Leben zu leben, das besser zu ihnen passt.

Wie gehen Firmen mit dem Thema Burnout um?
Leider gibt es nach wie vor Firmen, die kein Verständnis für Mitarbeitende aufbringen, die in ein Burnout geraten sind, und es wird ihnen zum erstmöglichen Termin gekündigt. Ich beobachte jedoch immer häufiger, dass Firmen Burnout ernst nehmen und die Organisation, das Personalwesen, den Führungsstil und anderes mehr verbessern und entwickeln wollen. Grössere Firmen richten sogar interne Stellen ein und arbeiten mit externen Fachkräften zusammen, um Burnout zu verhindern.

Und noch zum Schluss: Was empfehlen Sie beruflich stark belasteten Menschen, um einem Burnout vorzubeugen?
Es hilft sehr, sich bewusst zu werden, wo die eigenen Ressourcen, Kraft- und Energiequellen liegen, was einem im Leben Freude bereitet, was gut tut und ausgleicht.

Burnout
Der Begriff „Burnout“ stammt aus dem Englischen und bedeutet „ausbrennen“. Menschen mit einem Burnout leiden unter einem Zustand körperlicher, emotionaler und geistiger Erschöpfung und sind in ihrer Leistungsfähigkeit stark beeinträchtigt. Burnout ist ein Prozess, in dem Symptome sich zunehmend verstärken, bis sie zum Zusammenbruch oder in schlimmeren Fällen zum Suizidversuch führen können. Burnout zeigt sich somit als Stressfolgeerkrankung, Erschöpfungssyndrom und Sinneskrise.

*Stephan Scherrer ist Psychologe, Coach und Supervisor. Während über zehn Jahren Tätigkeit als Klinischer Psychologe, Psychotherapeut sowie als leitender Psychologe hat er sich auf die Behandlung von Burnout und Stresserkrankungen spezialisiert. So war er unter anderem am Aufbau der Burnout-Beratungsstelle Zürich der Privatklinik Hohenegg beteiligt. Zudem leitete er den Fachbereich Psychologie am Zürcher RehaZentrum Davos und praktizierte in der Abteilung Psychosomatik am Universitätsspital Bern (Inselspital) sowie in der Klinik für Schlafmedizin Bad Zurzach. Heute betreibt Stephan Scherrer seine eigene Privatpraxis in Zürich und berät, coacht und therapiert Burnout-Betroffene und Menschen in Krisensituationen. Gleichzeitig bietet er Workshops und Seminare für Unternehmen zu den Themen Resilienz, Kommunikation, Zusammenarbeit sowie Stress- und Burnout-Prävention an.

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