Jungs weinen nicht: Emotionaler Analphabetismus, somatische Symptome und der Shiatsu-Ansatz

„Wann haben Sie das letzte Mal geweint?“ Stille, die Augen sind an die Decke gerichtet. Dann: „Ich weiss es nicht mehr… vielleicht in der Grundschule. Ich hatte meinen Game Boy verloren.“


Solche, oder ähnliche Szenen sind häufiger, als man denkt. Es handelt sich nicht nur um eine Gedächtnislücke, sondern zeigt auch, dass Weinen nicht erlaubt ist. Wenn du ein Mann bist, sind Tränen immer noch ein grosses Tabu. Aber Wut? Völlig akzeptabel. Gegen eine Tür treten? Verständlich. Eine scharfe Bemerkung gegenüber der Partnerin? Ok.

Ein Schluchzen im Zug hingegen? Peinlich, fast unanständig.

In diesem Artikel geht es darum zu beleuchten, was passiert, wenn ein Mensch darauf trainiert wird, nicht zu fühlen, nicht zu zeigen, nicht zu benennen, was in ihm vorgeht. Dabei handelt es sich nicht nur um Verdrängung, sondern um reale Symptome: körperliche Verspannungen, Burnout, Süchte, Einsamkeit. Was man vielleicht als normativen männlichen emotionalen Analphabetismus bezeichnen könnte, tut weh. Und er kann verlernt werden.

Tränen verboten, Magenschmerzen erlaubt

Wenn der Körper für einen spricht, verschafft er sich Gehör. Die klinische Literatur zeigt seit Jahren, dass viele Männer ihren emotionalen Schmerz über den Körper ausdrücken − nicht metaphorisch, sondern ganz konkret. Denn oft haben sie kein anderes Ventil.

Und so kommt es zu chronischen Muskelverspannungen, Schlaflosigkeit, Reizdarm, unerklärlichem Herzklopfen und Kieferpressen.

Eine in der Zeitschrift Psychosomatic Medicine veröffentlichte Studie aus dem Jahr 2020 ergab, dass Männer mit geringer emotionaler Kompetenz bei gleichem Stressniveau deutlich häufiger funktionelle somatische Symptome entwickeln, d. h. echte Symptome ohne erkennbare organische Ursache [1]. Dazu gehören Unterleibsspannungen, Muskelschmerzen und Schlafstörungen.

Das ist keine Übertreibung. Manchmal geht es nur darum, wahrzunehmen, was wirklich da ist: eine stille, tief verwurzelte Einsamkeit, früh im Leben entstanden. Sie findet kaum Ausdruck in Worten – aber sie lebt im Körper weiter.

Shiatsu-TherapeutInnen können vielleicht Sätze hören wie: „Ich habe nichts, worüber ich reden könnte, ich fühle mich nur unruhig.“ „Ich fühle mich ängstlich, ich weiss nicht warum.“ „Es ist, als wäre ich ständig in Alarmbereitschaft.“

Und wenn die Hände des Therapeuten / der Therapeutin während der Behandlung auf das angespannte Zwerchfell, den steifen Nacken, den steinharten Bauch treffen, erzählt der Körper seine Geschichte. Emotionen verschwinden nicht; sie stauen sich im Körper und werden zu Symptomen.


Wut: Die „maskuline“ Emotion

Traurigkeit getarnt als ‘die Muskeln spielen lassen’

Wenn man ein Mann ist und traurig, ist es oft sicherer, wütend zu werden. So funktioniert es. In einer Kultur, in der Verletzlichkeit meist noch als Schwäche angesehen wird, sind Wut, Frustration und ähnliche Gefühle das erlaubte Ventil. Das sind „männliche“ Gefühle: direkt, aktiv. Traurigkeit und Angst hingegen werden in den emotionalen Keller verdrängt.

Doch chronische Wut ist oft ein Zeichen für ungehörten Schmerz, unterdrückte Frustration, ein leises Gefühl der Hilflosigkeit, das versucht, durchzubrechen. So ist es nicht selten, dass man Männer trifft, die mit plötzlichen Wutausbrüchen, anhaltender Reizbarkeit und Motivationsmangel leben − aber nicht erklären können, warum.

Neuere Studien zeigen, dass Männer, die in Kulturen sozialisiert wurden, die ihnen Verletzlichkeit absprechen, dazu neigen, eine hohe physiologische Erregung (erhöhtes Cortisol, Muskelhypertonie, Schlaflosigkeit) aufzuweisen und ihre Emotionen nach aussen zu tragen − durch Aggression, Vermeidung oder Rückzug [2].

Im Körper äussert sich dies in chronischen Spannungen und Entzündungen: angespannte Schultern, zusammengebissene Kiefer, verkrampfte Bauchregion. In der Shiatsu-Praxis ist dies sofort spürbar − selbst im Ruhezustand fühlt sich der Körper an, als sei er im Verteidigungsmodus. Die Arbeit beginnt also dort: nicht mit Worten, sondern mit Präsenz, mit sanftem, gleichmässigem Druck, mit Stille, die zuhört. Und mit einer stabilen, nicht invasiven, sicheren Berührung − der Art, die viele Klienten seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben.


Wortlose Beziehungen

Viele Männer wachsen ohne ein emotionales Vokabular auf. Nicht, weil sie „kalt“ sind, sondern weil ihnen nie jemand beigebracht hat, ihre Gefühle zu benennen. Ausser „gut“ und „schlecht“ gibt es oft… nichts.

„Ich weiss nicht, was ich fühle.“ „Ich fühle mich komisch.“ „Ich weiss nicht, was ich verpasse.“ „Es geht mir gut, aber ich habe keine Lust, etwas zu tun.“ Das sind die Sätze, die in den Behandlungs-Sitzungen widerhallen. Botschaften aus den emotionalen Tiefen, wo sich Traurigkeit als Rückenschmerzen, Melancholie als Brennen im Bauch und Angst als unerklärliche Müdigkeit zeigen.

In diesem Kontext werden Beziehungen schwierig. Nicht wegen fehlender Zuneigung, sondern wegen fehlender Herz-zu-Herz-Kommunikation.

Und so wird die Aufrechterhaltung der Bindung zu einer Frage der Kontrolle, des Handelns, des Fixierens. All das sind durchaus zulässige Wege, zu fühlen und manchmal auch zu handeln − aber riskant, wenn sie zur einzigen Option werden, da sie starr sind und automatisch ablaufen.

Das Bedürfnis, darüber zu sprechen, was wir wirklich fühlen, bleibt unerfüllt. Manchmal verlässt die liebende Person einen emotional verschlossenen Mann, weil sie emotional ausgehungert ist. Und der Mann bleibt zurück und sagt: „Aber es schien alles in Ordnung zu sein.“


Berühren, Zuhören, Dekodieren: Körpersignale als erste emotionale Sprache

Der Körper lügt nicht. Wenn die emotionale Sprache blockiert ist, bleibt der Körper der Ort, an dem sich der Schmerz verfestigt, wo Traurigkeit gefriert, wo Scham vibriert.

Körperzentrierte Therapien wie Shiatsu verlangen nicht, dass man sofort redet. Sie fordern einem auf, präsent zu sein, zu fühlen, da zu bleiben. Dort wo Worte sich gefährlich anfühlen würden, kann eine achtsame Berührung heilsam wirken.

Manuelle Therapien, therapeutische Berührung und somatische Ansätze können körperliche Symptome lindern, die mit emotionaler Unterdrückung verbunden sind: Schlaflosigkeit, Muskelverspannungen, Magen-Darm-Beschwerden, Müdigkeit [3].

Im Shiatsu ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Klient nach Monaten der Arbeit wieder zu träumen beginnt. Oder dass er überrascht sagt: „Ich weiss nicht, was über mich gekommen ist. Mir war zum Weinen zumute. Und es hat mir nichts ausgemacht.“

Dann wird der Körper endlich ein Zuhause.


Fallstudie − Der Mann mit dem Steinbauch

Karl (Name geändert), 48, im Finanzwesen tätig, lebt seit Jahren mit Schlaflosigkeit, saurem Reflux und unberechenbarer Wut. Es war seine Frau, die ihn ins Shiatsu geschickt hat − das stellt er bei der ersten Sitzung klar. Nicht, dass er daran „glaubt“. Aber er hat gesehen, dass es bei ihr funktioniert hat.

In den ersten Sitzungen zeigt sich nichts Wesentliches. Seine Körperhaltung ist starr, die Stimme flach, die Körpersprache kontrolliert. Sobald die Sequenz es zulässt, beginnt die Therapeutin, sich auf den Bauchbereich zu konzentrieren. Er ist extrem angespannt. Dort scheint Karl alles festzuhalten.

Nach etwa zwei Monaten beginnt er, von Träumen zu berichten. Nach weiteren Behandlungen taucht eine Erkenntnis auf: „Ich hatte Angst, und ich wusste es nicht.“

Kein grosses Trauma. Nur ein Leben ohne Raum für Zerbrechlichkeit und Verbindung.

Wie es manchmal geschieht, begann bei Karl die Transformation im Körper − nicht mit Worten.


Autorin: Alice Ginger Zagato


Referenzen:

[1] Petzke, T.M. & Witthöft, M. The Association of Emotion Regulation and Somatic Symptoms. Psychosomatic Medicine, 2024, 86(6):561–568.
[2] Nordin, T. et al. A Scoping Review of Masculinity Norms and Their Interplay With Loneliness and Social Connectedness Among Men in Western Societies. American Journal of Men’s Health, 2024, 18(6).
[3] Calsius, J. et al. Touching the Lived Body in Patients with Medically Unexplained Symptoms. Frontiers in Psychology. 2016, 7:253. 


Weiterführende Links:
_ „Mir geht es gut!“ Gesundheitsvorstellungen von Männern in der Schweiz. Ergebnisse aus einem empirischen Projekt
_Dachverband Schweizer Männer- und Vaterorganisationen
_Männer40+ – Informationsplattform