Salutogenese – der andere Blick auf Gesundheit und Krankheit
Salutogenese – kein sehr geläufiges Wort. Es klingt wissenschaftlich und lässt keine alltägliche Bedeutung erkennen. Doch wer gesundheitliche Herausforderungen, Stress oder chronische Beschwerden erlebt, stellt sich oft die Frage: „Was kann mir helfen, wie finde ich Kraft?“. Dies ist salutogenetisches Denken. Statt zu unterstreichen, was uns krank macht, hinterfragt es, was uns gesund hält oder gesund werden lässt. Dieser Perspektivenwechsel kann eine Befreiung sein, weil er die eigene Handlungskompetenz erweitert.
Salutogenese ist ein Leitbild, welches sich darauf konzentriert, wie Gesundheit entsteht und erhalten werden kann. Im Gegensatz dazu fragt die Pathogenese danach, warum Menschen krank werden. Das Salutogenese-Modell liegt der KomplementärTherapie zugrunde. Es rückt das Gesamtbild des Menschen in den Mittelpunkt – seine körperlichen, mentalen und emotionalen Ressourcen. Damit wird der Blick auf Potenziale und Stärken gelenkt anstatt auf Mängel.
Der Begriff Salutogenese stammt aus dem Lateinischen salus (Gesundheit, Wohlbefinden) und dem Griechischen genesis (Entstehung, Ursprung). Zusammengesetzt bedeutet er so viel wie „Gesundheitsentstehung“ oder „Gesundheitsursprung“. Geprägt hat ihn der Soziologe Aaron Antonovsky (1923–1994).
Ursprung der Salutogenese: Antonovskys neue Sicht auf Gesundheit
Der Medizinsoziologe Antonovsky betrieb in den 1960er- und 1970er-Jahren unter anderem Forschungen mit Frauen, die das Konzentrationslager überlebt hatten. Dabei stellte er fest, dass einige trotz des unglaublichen Leids, welches sie erfahren hatten, eine vergleichsweise gute psychische und physische Gesundheit aufrechterhalten konnten. Eine Beobachtung, welche der damals dominierenden pathogenetischen Sichtweise der Schulmedizin widersprach, die sich auf Krankheitsursachen konzentrierte. Antonovsky begann daher, eine neue Sicht zu entwickeln, die sich nicht auf „Warum werden Menschen krank?“, sondern auf „Was hält Menschen gesund?“ konzentrierte. Daraus entwickelte er in den folgenden Jahren sein Konzept der Salutogenese.
Die Schulmedizin folgt in weiten Teilen einer pathogenetischen Logik, was historisch gesehen Sinn ergab. Man konzentrierte sich auf die Erforschung von Krankheitserregern, die Diagnostik und Therapie von Symptomen und die Vermeidung von Risikofaktoren. Durch diesen Zugang wurden Infektionskrankheiten beherrschbar und der medizinische Fortschritt vorangetrieben. Diese Sichtweise stösst jedoch oft an Grenzen, wenn es darum geht, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Gesundheit langfristig zu erhalten oder wiederzuerlangen. Häufig steht im Vordergrund: „Was läuft schief? Was muss bekämpft werden?“.
Der salutogenetische Blick fragt, was Menschen dabei unterstützt, selbst unter schwierigen Bedingungen ihr Gleichgewicht zu bewahren oder wiederzugewinnen. Somit wird die Aufmerksamkeit vom Negativen weg zum Positiven, von Defiziten zu Ressourcen, von Symptomen zu Faktoren einer stabilen Gesundheit gelenkt. Das bedeutet nicht, dass Krankheiten ignoriert werden. Vielmehr wird ihre Existenz nicht als Fehler in einem System betrachtet, sondern als Teil eines Kontinuums zwischen gesund und krank. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Kohärenzgefühl – das Erleben der Welt und des eigenen Lebens als bewältigbar, begreifbar und sinnvoll.
Kohärenz als Grundlage der Salutogenese
Antonovsky war überzeugt, dass Kohärenz der Schlüssel ist, um Gesundheit zu verstehen. Er sah Gesundheit nicht als fixen Zustand, sondern als dynamischen Prozess, in dem wir uns auf einer Skala zwischen Krankheit und Gesundheit hin- und herbewegen. Wenn wir eine hohe Kohärenz empfinden, wirkt sich das positiv auf unseren Gesundheitszustand aus. Wenn wir eine niedrige Kohärenz erleben, weil das Leben chaotisch und sinnlos erscheint, dann ist die Gefahr grösser, dass wir krank werden oder uns nicht ausreichend von bestehenden Problemen erholen.
Nach Antonovsky besteht das Kohärenzgefühl aus drei wesentlichen Elementen: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit. Gemeinsam bilden sie die Basis dafür, wie wir mit Stressoren und Herausforderungen umgehen.
- Verstehbarkeit bezieht sich darauf, inwieweit wir Ereignisse und Situationen als konsistent, strukturiert und erklärbar wahrnehmen. Menschen, die über ein hohes Mass an Verstehbarkeit verfügen, haben das Gefühl, dass sie ihr Leben und die Welt im Grossen und Ganzen begreifen. Ihnen scheinen die Herausforderungen nicht unvorhersehbar oder willkürlich, sondern verständlich zu sein. Dadurch können sie sie besser in ihr bestehendes Weltbild integrieren.
- Handhabbarkeit beschreibt das Vertrauen, Schwierigkeiten bewältigen zu können – durch eigene Stärken, aber auch durch unterstützende Faktoren wie Familie, Freundschaften, ein gutes soziales Netzwerk oder professionelle Hilfe durch TherapeutInnen. Wer eine hohe Handhabbarkeit empfindet, sieht sich weniger als Opfer der Umstände, sondern glaubt daran, aktiv etwas tun zu können, um die Lage zu verbessern.
- Sinnhaftigkeit meint schliesslich die Überzeugung, dass das Leben einen Sinn hat und die Anstrengungen, die wir unternehmen, wertvoll sind. Menschen mit einer ausgeprägten Sinnhaftigkeit können selbst in schwierigen Phasen Sinn finden – sei es durch eine persönliche Überzeugung, spirituelle Praktiken, ideelle Ziele oder eine erfüllende Arbeit. Dieses Gefühl gibt Kraft und Durchhaltevermögen.
Wenn alle drei Komponenten ausgewogen vorhanden sind, entsteht laut Antonovsky ein starkes Kohärenzgefühl. Dieses Kohärenzgefühl entwickelt sich im Laufe des Lebens durch persönliche Erfahrungen, soziale Einflüsse und auch durch Krisen. Tatsächlich können Krisen eine Chance sein, das eigene Kohärenzgefühl zu stärken. Dabei kann man nach einer schwierigen Erfahrung reflektieren: „Ich habe verstanden, was passiert ist (Verstehbarkeit). Ich konnte es mit meinen oder fremden Ressourcen bewältigen (Handhabbarkeit). Und ich habe einen Sinn darin gefunden (Sinnhaftigkeit).“
Salutogenese in der KomplementärTherapie
Salutogenese bildet eine Grundlage der KomplementärTherapie (KT) und lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was im Menschen bereits an Stärken vorhanden ist. KT-TherapeutInnen arbeiten nicht defizitorientiert, sondern ressourcenorientiert. Sie fragen: „Welche positiven und unterstützenden Erfahrungen gibt es? Welche Lebensbereiche sind stabil und können als Anker dienen?“.
Besonders bei KlientInnen, die schon länger nach Lösungen für ihre Gesundheitsprobleme suchen oder viele Stationen hinter sich haben, kann dieses Herangehen befreiend sein. Sie erleben, dass sie mehr sind als ihre Symptome oder Diagnosen. Dass es Bereiche in ihrem Leben gibt, in denen sie sich sicher und kompetent fühlen und dass sie diese Ressourcen gezielt einsetzen können, um Genesung und Wohlbefinden zu fördern. Das steigert die Motivation und das Selbstvertrauen – Faktoren, die in jedem therapeutischen Setting eine zentrale Rolle spielen. Wenn KlientInnen erleben, dass sie nicht „repariert“ werden müssen, sondern bereits Fähigkeiten und Anlagen in sich tragen, erfahren sie Zuversicht. Es entsteht das Gefühl: „Ich bin Teil der Lösung.“
Dieses Gefühl der Mitverantwortung erhöht erfahrungsgemäss die Bereitschaft, an der eigenen Gesundheit aktiv mitzuwirken. Während manche sich in einem rein symptomorientierten Therapiesetting eher als Opfer ihrer Krankheit begreifen, lernen sie durch salutogenetisch ausgerichtete Methoden, wie beispielsweise Shiatsu, ihren Handlungsspielraum zu erkennen. Das kann bedeuten, dass sie eine veränderte Körperhaltung im Alltag praktizieren, Stressoren bewusster wahrnehmen und gezielt Pausen einplanen oder Entspannungstechniken erlernen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der emotionale Gewinn: Wer weiss, dass Gesundheit nicht nur das Fehlen von Krankheit ist, sondern etwas Dynamisches und Wachsendes, kann mit auftretenden Beschwerden angstfreier umgehen. Anstatt sich von Rückschlägen lähmen zu lassen, werden diese als Zeichen verstanden, dass wieder besondere Aufmerksamkeit und Pflege notwendig sind – ähnlich wie bei einer Pflanze, die bei Trockenheit gegossen werden muss. Dieses Vertrauen, jederzeit an der eigenen Gesundheit „weiterarbeiten“ zu können, setzt viel Energie frei.
Text: Anita Oswald
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