Therapie als Prozess

Interview mit Barbara Felber, Vorstandsmitglied der Shiatsu Gesellschaft Schweiz (SGS)

In der KomplementärTherapie wird Genesung als individueller Veränderungsprozess verstanden, der Körper, Geist und Seele umfasst und von verschiedenen, sich ergänzenden Faktoren beeinflusst wird. Ziel der Therapie ist es, diesen Prozess anzustossen, ihm Raum zu geben und ihn durch die verschiedenen Phasen zu begleiten. Dabei werden die Selbstwahrnehmung, die Selbstregulation und die individuelle Genesungskompetenz gestärkt und so körperliche, emotionale oder auch mentale Beschränkungen und Leiden gelindert. Der persönliche Genesungsprozess wird zudem mit der Stärkung individueller Fähigkeiten und Ressourcen unterstützt.

Wie ist im Shiatsu Therapie als Prozess zu verstehen?
Gemäss der fernöstlichen Philosophie, auf die sich Shiatsu unter anderem stützt, ist das Leben als unaufhaltsamer, allumfassender Wandlungsprozess zu verstehen. Ist der Mensch nicht im Einklang mit seiner eigenen Veränderung oder der Veränderung seiner Umwelt und kann sich nicht ausreichend anpassen, gerät er aus dem Gleichgewicht. Ausdruck davon können körperliche, emotionale oder mentale Beschwerden sein. Heilung ist im Umkehrschluss der Prozess, welcher zur Wiederherstellung des Gleichgewichts unter den gegebenen Umständen führt. Gesundheit ist somit kein statischer Zustand, sondern ein andauernder Regulationsprozess, der sich manchmal mehr, manchmal weniger ideal gestaltet.

Diese Suche nach dem bestmöglichen Gleichgewicht ist ein individueller Veränderungsprozess. In der Shiatsu-Therapie dient die Beobachtung dieses Prozesses im Hinblick auf eine optimale Unterstützung und Begleitung laufend als Orientierung (z. B. in der Befunderhebung).

Um diesem systemeigenen Regulationsprozess gerecht werden zu können, muss auch die Therapie prozesshaft strukturiert sein: Vier Prozessphasen können in der Shiatsu-Therapie ausgemacht werden. Diese können sich auch überlagern oder nicht-linear verhalten. In jeder Prozessphase geht es darum, die Person ganzheitlich zu erfassen und Veränderungsschritte, je nach Priorität, auf der Ebene des Körpers, des Geistes oder der Gefühle zu ermöglichen.

Welche Prozessphasen gibt es und was zeichnet sie aus?
In der KomplementärTherapie, zu welcher auch die Methode Shiatsu gehört, identifiziert man vier Prozessphasen: Begegnen, Bearbeiten, Integrieren und Transferieren.

Die Begegnungsphase leitet den therapeutischen Prozess ein. Sie dient dem Aufbau von Vertrauen, der Schaffung einer Beziehung. Es soll eine Atmosphäre der Offenheit und der Sicherheit entstehen, in der sich die Klientin sich selbst und ihrem Genesungsprozess widmen kann. In diese Phase fallen auch die Befundaufnahme und das Erfassen der individuellen Situation, wie auch der Ressourcen, die der Klientin schon bekannt sind.

Die Bearbeitungsphase beinhaltet den methodenspezifischen Teil der Therapie. In dieser Phase werden bestehende und im Prozess auftauchende Themen, Beschränkungen und Beschwerden auf der körperlichen, energetischen (meridianspezifischen), emotionalen oder auch mentalen Ebene bearbeitet. Auch verborgene Ressourcen können sich im Bearbeitungsprozess zeigen. Gerade in dieser Phase wird stark mit der Selbstwahrnehmung gearbeitet, um mit den auftauchenden Themen und Beschwerden, aber auch mit Fähigkeiten in Kontakt zu kommen. Der Prozess, der durch das Erkennen und Anerkennen der Themen in Gang kommt und die energetische Bearbeitung spezifischer Meridiane ermöglichen oft schon eine Stärkung der Selbstregulation und ein gewisses Mass an Entspannung.

Die Integrationsphase wiederum kann Dinge an ihren Platz rücken, sie fühlt sich an wie Ja-Sagen. Energetische, meridianspezifische Integrationen drücken sich durch tiefe Atemzüge und Entspannung aus. Emotionale oder mentale Integrationen gehen einher mit Erkenntnissen, Bewusstwerdung und dem konkreten Wunsch nach Veränderung.

Die Transferphase zielt auf die Verankerung der Anstösse der vorhergehenden Phasen im Alltag ab. Die Veränderungen und Erkenntnisse sollen konkret mit Übungen, Visualisierungen oder geändertem Verhalten im Alltag gefestigt werden.

Kannst du an einem Praxisbeispiel den Prozess während der Therapie darstellen?
Ein Klient kam nach mehreren kleinen, kurz aufeinanderfolgenden Unfällen, die zwar medizinisch ausgeheilt waren, jedoch Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindel und ausgeprägte Lärmempfindlichkeit zurückliessen, die ihn arbeitsunfähig machten, zu mir in die Behandlung. Er war der Methode gegenüber eher skeptisch eingestellt, aber sein Hausarzt hatte ihm Shiatsu empfohlen. In der Begegnungsphase fühlte er sich gut verstanden und schöpfte Vertrauen, sodass er trotz seiner anfänglichen Vorbehalte im Gespräch etwas mehr von sich erzählte. Dabei stellte sich heraus, dass er sowohl im Familienalltag als auch im Berufsleben ständig überfordert und überarbeitet war. Durch die kleineren Unfälle hatte er zum ersten Mal seit Jahren innehalten und zur Ruhe kommen müssen.

In der Bearbeitungsphase wurden energetische, meridianspezifische Spannungen und Blockaden mittels Körperarbeit gelöst. Einhergehend mit der besseren Wahrnehmung seines Körpers, wurde dem Klienten in dieser Phase auch sein Unwohlsein, wenn es ruhig und still wird, bewusst. Dies konnte er während der Therapie formulieren und kam im begleitenden Gespräch zu verschiedensten Erkenntnissen, wodurch er sich während der darauffolgenden Behandlungen immer besser entspannen konnte.

In der Integrationsphase erkundeten wir gemeinsam, wie sich diese neuen Erkenntnisse auf sein Leben auswirken könnten. Er erlernte einige Atemtechniken, welche ihm während der Behandlungen und auch im Alltag halfen, bewusst bei sich zu bleiben. Auch wuchs in ihm der Wunsch, nicht mehr mit diesem Tempo durchs Leben zu hasten.

In der Transferphase schauten wir zusammen an, wie er seine neuen Wünsche konkret im Alltag umsetzen könnte. Der Klient verordnete sich selbst klar definierte Momente der Selbstreflexion und der bewusst wahrgenommenen Ruhe. Er wollte in diesen Phasen auch seinen Körper besser spüren und auf dessen Botschaften hören. Seine Beharrlichkeit wie auch seine Familie waren wichtige Ressourcen, die ihn bei diesen Veränderungen unterstützten.

Durch diesen Prozess wurde sein Befinden laufend besser, und er konnte wieder arbeiten. Allerdings ermöglichte er sich einen behutsamen Wiedereinstieg und nahm sich immer wieder Zeit. Er lernte, auf die Signale seines Körpers zu hören, wenn dieser nach Ruhe rief. Ansprüchen von aussen lernte er mit grösserer Gelassenheit zu begegnen.

In der letzten Sitzung berichtete er, dass sogar seine Schlafstörungen, unter denen er über 20 Jahre lang gelitten hatte, verschwunden waren und dass er sich seit vielen Jahren nicht mehr so ruhig und gelassen gefühlt habe.

Die Praxistätigkeit hat mich gelehrt, dass das Geschehen im individuellen Regulationsprozess immer auf einzigartige, natürliche, manchmal auch sprunghafte oder unerwartete Weise verläuft.

Das Tiefgreifende eines Heilungsprozesses erkennt man gerade daran, dass sich dank einer sehr bewussten und aufmerksamen Begleitung und einem An- und Erkennen des jeweiligen Ist-Zustands oft auch ungeahnte Wege hin zum bestmöglichen Gleichgewicht eröffnen.

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Biografisches
Barbara Felber ist seit 22 Jahren Shiatsu-Therapeutin mit eigener Praxis in Genf. Im Vorstand der SGS ist sie zuständig für die Methode Shiatsu. In diesem Rahmen war sie an der Erarbeitung der METID Shiatsu beteiligt. Ausserdem ist sie für die Fortbildungs- und die Redaktionskommission sowie für die Kommunikation mit der französischen Schweiz zuständig.