Angst, Körper, Energie und Shiatsu

Empfindet ein Mensch Angst ist dies für Aussenstehende nicht immer klar zu erkennen. Auch für Betroffene sind oft andere Symptome stärker wahrnehmbar als die Angst selbst. Zeichen und Symptome der Angst zeigen sich häufig auf körperlicher, aber auch energetischer Ebene. Shiatsu kennt Werkzeuge, um diese Zeichen zu erfassen und Menschen, die mit ihnen zu kämpfen haben, auf einer tieferen Ebene zu begleiten.

Ein Praxisbericht

Klient P kommt zum Shiatsu, weil er sich entspannen möchte. Er fühlt sich meist im ganzen Körper unter Spannung und hat Mühe einzuschlafen. Auch tagsüber kreisen seine Gedanken oft. In den letzten Monaten hat er häufig Magenschmerzen und manchmal Durchfall, ist erschöpft und hat oft Träume mit Angstthemen. Er ist 43 Jahre alt und arbeitet als Sozialpädagoge an einer grossen Schule. Er fühlt sich dort insgesamt kompetent, und ihm macht die Arbeit viel Freude, auch wenn die Lebenssituationen der Kinder oft schwierig sind.

Bei der ersten Behandlung liegt Herr P anfangs etwas steif und schmal auf dem Futon, mit gehaltenem Atem, fast als wolle er sich unsichtbar machen. Die untere Körperhälfte wirkt dabei noch stiller als die obere. Beim Berühren antwortet die Muskulatur mit einer deutlichen Abwehrspannung. Die Therapeutin entscheidet sich eingangs mit einer offenen Berührung der ganzen Hand das Bein zu behandeln, wobei die andere Hand lauschend auf dem Hara ruht. Sie wählt den Rhythmus, die Intensität und die innere Einstimmung aus, bei der sich der Kontakt vertieft und die Abwehrspannung zu lösen beginnt. In diesem annehmenden Grundkontakt ohne Impulse zur Veränderung kann dem Menschen, ganz nach den Worten des Psychologen Mario Jacoby, vermittelt werden: „Ich bin es wert, Echo zu bekommen. Ich bekomme Echo, also bin ich.“

Shiatsu schafft eine fühlende Verbindung zum Körper

P atmet mehrmals tief, und beim Ausatmen löst sich seine strenge Haltung ein bisschen. Die Therapeutin lässt ihn sich im Behandlungsverlauf auf die Seite drehen. So kann er sich etwas einrollen, eine Position in der sich Menschen meist geschützt fühlen, zudem ermöglicht sie die Rundung des Rückens. Im Falle von Angst oder einer Schreckreaktion, in der man bereit ist, zu flüchten oder zu kämpfen, ist der Rücken eher steif und gerade. Schutz ist eine Hauptfunktion des Dreifachen-Erwärmer-Meridians. Indem sich die Therapeutin auf diese Qualität einschwingt, vertieft sich der Kontakt. Dem Nacken und dem Schädelrand widmet sie besondere Aufmerksamkeit. Der Kopf ist ein wenig in einer Rückwärtsneigung fixiert. Diese Haltung findet sich häufig in Verbindung mit Angst. Sie hilft, den Kopf in einer als bedrohlich empfundenen Situation sprichwörtlich über Wasser zu halten und so weiter funktionieren zu können. Shiatsu ermutigt die fühlende Verbindung zum Körper. P wirkt allmählich energetisch runder und weiter, nicht nur durch die gerundete physische Position.

Nach der Behandlung nimmt P diese Veränderung erstaunt und deutlich wahr. Anschliessend übt die Therapeutin mit ihm diese rundere, weichere Haltung im Sitzen. Die Aufgabe für zuhause ist, das Empfinden von der Shiatsu-Sitzung wieder wachzurufen.

Die Gesichter der Angst

Angst ist eine natürliche, lebenswichtige Schutzfunktion. Sie mobilisiert Energiereserven für Kampf, Flucht, Bewältigung oder Vermeidung und verengt Wahrnehmung, Denken und Handeln auf einen kleinen, gefahrenrelevanten Ausschnitt. Angst ist eine Antwort auf Bedrohung, wobei die Bedrohung auch innerlich sein kann. In der Tiefe geht es oft um Erfahrungen, die existenziell sind, wie die Angst zu sterben, verrückt zu werden, vor Trennung und Verlassenheit. Es ist die Angst vor etwas Unbekanntem, und der Mensch weiss nicht, wie damit umzugehen ist. Angst zeigt die Grenze der momentanen Fähigkeit, sich zu organisieren.

Diese Kräfte und Muster werden auch aktiviert, wenn Kampf oder Flucht gar nicht funktional sind oder wenn die zugrundeliegende Bedrohung nicht bewusst ist. Auch Befürchtungsfantasien stimulieren angsttypische Erregungsmuster. Im Kreislauf der Angst werden die körperlichen Angstentsprechungen als Gefahr empfunden, die wiederum das Angstgefühl verstärken.

Angst kann wie ein Aufruf verstanden werden, die eigenen Erfahrungs- und Handlungsräume zu erweitern. Um sich der Angst stellen zu können, braucht es jedoch Vertrauen in den eigenen Körper.

Wie sich Angst im Körper und in der Energie zeigt

Einige mögliche Symptome und Ausdrucksweisen von Angst sind im Fallbeispiel oben schon erwähnt. Angst führt zu Einschränkungen in der Lebensfreude, Lebenskraft und der Lebensführung. Sie wird von emotionalen, sozialen und beruflichen Folgeproblemen begleitet. Oft wird der Körper als Problem und Ort der Bedrohung empfunden. Betroffene Menschen leiden etwa an Herzklopfen, Schwitzen, Atemproblemen, Schwindel, Kopfweh, Verdauungsproblemen, Verspannungen oder Müdigkeit. Sie denken, sprechen und bewegen sich oft schneller oder verlangsamt, verlieren das Empfinden für ihren Körper und ihre Grenzen oder sind jeder kleinster Regung gegenüber übermässig wachsam.

Aus der Shiatsu-Perspektive findet sich häufig mehr Energie im Oberkörper. Im Schreckreflex wird die Bewegung nach oben deutlich. Die Energie kann sich, wie bei Klient P, starr und eng gehalten zeigen. In anderen Fällen wirkt sie wie nervös flatternd und nicht gut zentriert. Wenn ein Mensch den Körper nicht mit seinem Identitätsempfinden bewohnt, fühlt er sich in der Berührung des Körpers allenfalls sehr still, nachgiebig und in irritierender Weise offen an. Tastet man jedoch energetisch im Energiefeld, kann dort die Präsenz deutlicher sein.

Das Potenzial von Shiatsu im Umgang mit Angst

Eine besondere Stärke des Shiatsu liegt in der klaren und akzeptierenden Berührung. Diese Sprache ist universell und wird unmittelbar verstanden. Neben dem Eingehen auf verspannte Bereiche oder Stellen, die einen auffällig niedrigen Tonus haben, wird die Person dabei in ihrem Leib – ihrem beseelten Körperraum – angesprochen. So kann ein positiver Leibbezug unterstützt werden, der durch fortwährende Angsterfahrung oder auch untergründige Angst vermindert ist. Im Leibgedächtnis sind wiederholte Erfahrungen von misslungenen Angstbewältigungsversuchen und Vermeidungstendenzen gespeichert. Diese springen leicht wieder an im Alltag. Über Shiatsu können neue Informationen aufgenommen und verankert werden und das Leibgedächtnis kann, über den Weg vom Körper zum Geist, erweitert werden. Dazu gehört auch die Erfahrung, sich in der Berührung spürbar akzeptiert und geborgen zu fühlen.

Angst generalisiert sich leicht: Der ganze Körper fühlt sich unangenehm an. TherapeutInnen beachten dies, indem sie nach dem Behandeln etwa eines Arms Zeit geben zum Spüren und Beschreiben der Unterschiede beider Arme. So kann sich die Selbstwahrnehmung differenzieren und ein angenehmes Empfinden wieder Raum bekommen.

Shiatsu-TherapeutInnen können beim Behandeln auf die jeweiligen individuellen energetischen Muster fokussieren und auch auf das, was im positiven Sinne bei dem Menschen schon ‚da‘ ist. Dieses Vorgehen entfaltet eine erstaunlich grosse Heilkraft, nicht nur bei Menschen, die unter grossem Leistungsdruck oder geringem Selbstwert und damit verbundenen Versagensängsten leiden.

Der Prozess von Klient P

P ist auf dem Weg, Lösungen nicht nur über das Denken zu suchen, sondern er nimmt sein Fühlen und sich selbst wichtiger. Ihm ist der Zusammenhang mit seinen Kindheitserfahrungen bewusst geworden. Sein Vater hat viel Alkohol getrunken, war unberechenbar in seinen Reaktionen und hat ihn häufig geschlagen. Seine Mutter war ängstlich und überfordert und hat oft mit den Strafen des Vaters gedroht. P hat sich in der Schule wohler gefühlt als zuhause und hat die Welt der Konzepte und des Denkens vorgezogen. Dort gab es Ordnung und Halt. Durch die Erfahrungen im Shiatsu lernt er, den ängstlichen Anteil von sich nachreifen zu lassen und eine neue, vertrauensvolle Lebendigkeit zu entwickeln.

Autorin: Brigitte Ladwig.

Dieser Artikel erschien in ausführlicherer Fassung in ‹Shiatsu› 2016, der Jahrespublikation der Shiatsu Gesellschaft Schweiz

Weitere Beiträge zum Thema:
_ https://shiatsuverband.ch/shiatsu-bei-angststoerungen-beruhigung-durch-beruehrung/
_ https://shiatsuverband.ch/angststoerungen-kinder-jugendliche/